Der Wolf schaut mich an. Zugegeben, er hat’s nicht einfach: ich stehe in der Sonne, und eigentlich müsste er beim Blick in meine Richtung in selbige blinzeln. Tut er wohl, wenn auch nicht sichtbar, und wahrscheinlich nicht wegen des Gegenlichts. Graupelz kommt gemütlich trabend keine 10m hinter meinem Zelt aus dem Gebüsch. Nach dem wortlosen Willkommensgruß dreht er ab und tänzelt ins Dickicht zurück. Ich kann’s nicht fassen. Kaum auf dem Bach, dann schon er.
Tag 0 auf dem Pelly, solo. Der Weg hierher war lang und krumm. Die Entschluss, endlich dieses bisher liegen gebliebene Projekt anzugehen, kam eigentlich schon bald nach dem letzten Sommer. Letztlich habe ich mich nicht wirklich um eine andere Tour gekümmert. Es war überfällig. So stehe ich nun hier, nach einem Antransport von Whitehorse nach Faro in maus- bis steingrau: Regen, Input im Fuzzelregen, Zeltaufbau bei aufklarendem Wetter und lupus lupus im Sonnenuntergang. So bestätigt sich die Regel, Highlights gleich zu Beginn einer Tour serviert zu bekommen.
Nach zwei anderen Seitenflüssen des oberen Yukon in früheren Jahren war dieser Bach eine nahe liegende Auswahl. Der Pelly. früher für den Oberlauf des Lewes/Youcon gehalten, vergleichsweise dicht besiedelt (alle paar 10km leben auch heute noch Leute), ist technisch einfach(st), aber im Ganzen abseits genug für meinen Urlaubswunsch. Große Flüsse sind mir ans Herz gewachsen, und nach 11 Monaten im Jahr im völlig überbevölkerten Rhein-Neckar-Raum steht mir der Sinn nach Weite. Einfache Logistik spielt auch eine Rolle, schließlich muss nach Transport und anderen Kosten noch Kleingeld für’s Essen & den Heimflug übrig bleiben – also Pragmatisches. Was sind wir doch vernünftig.
Die Vorbereitung ist etwas anders als sonst, es ist ja niemand da, der/die nachfragt, ob dies und das noch fehlt; keine Diskussionen über die Sinnhaftigkeit von Ausrüstungsgegenständen mit anderen: nein – mit mir selbst. Die Gepäckmassen bringen mich immer ins Grübeln. Passagiere werden von Fluggesellschaften immer mehr zu Stückware degradiert, wahrscheinlich werden wir irgendwann nach Lebendgewicht taxiert und dürfen gar kein Gepäck mehr mitnehmen. Am besten gar nicht mehr fliegen und nur noch bezahlen. Derzeit gehen die Freigrenzen ‚runter, wie bekommt man also gescheites Equipment zu einem vernünftigen Preis über den Teich? Was ich essen werde, ist einfacher. Foto muss funktionieren, die Karten sollten da sein, auch wenn die Gegend übersichtlich ist. Das übliche Programm, nur in klein.
Hagel, Gewitter, Regen, Sonnenschein. Der Sommer kämpft mit dem Herbst auf verlorenem Posten, aber mit beeindruckenden Szenen und Einlagen. Bis auf dieser Kiesbank das Küchentarp steht, und endlich der Tee fertig ist, kommt die nächste Ladung Wasser von oben. Dinner mit Show- und Sprinteinlagen. Dieser Abend wird lang, wenn auch nicht so wie der vorhergehende. Das ebenfalls den Pelly herunterfahrende Quartett aus vier Wienern hat mich tags zuvor mit Ouzo, Bier & Reinhard Fendrich versorgt, es wurde spät, und so mancher einheimische Vierbeiner wird sich über den vielstimmigen Gesang gewundert haben. Nun ist’s Zeit für die Zeit ganz alleine – :“Ruhe“-tag. Ich lese noch eine Weile, rolle mich ein, und schlafe ein mit der Gewissheit, morgens früh einfach liegen bleiben zu können.
Der Morgen bringt dichten Nebel. Diffuses Licht, Ruhe – ein friedlicher Ausblick aus der Zelteingangsklappe. Im Schlafsack ist’s so richtig gemütlich. Kaum kommt die Sonne durch, sticht sie sofort und scheucht mich aus dem Zelt; das nächste Gewitter mit Geräuschkulisse wie in den Alpen läßt nicht lange auf sich warten. Dazwischen viel Zeit. Schreiben – endlich. Angeln – nö, jetzt nicht. Mittagsschläfchen – ja bitte! Tee kochen – klar. Tee trinken – auch, es kommen zwischendurch Gäste. Gegend anschauen – immer doch. Ein Ruhetag geht auch ohne Programm bald vorbei. Endlich Zeit, mal wirklich die Unterschiede zwischen den Kieseln rechts neben der Fototasche und denen zu meinen Füssen genauer zu studieren. Schachtelhalme begleiten meinen Weg zum Freiluft-Örtchen. Alte, gleichmäßige Elchspuren verraten, dass dieses Tier kein Eile hatte. Und das Aprilwetter gibt tausendfach Gelegenheit, in den Wolken üppige Gemälde von Rubens mit ausgeprägt charakteristischen Gesichtern und sonstigen Formen zu sehen. Morgen früh werde ich zum ersten Mal seit Wochen ausgeschlafen und richtig wach sein.
Viele gute Wünsche gibt’s zum Urlaub. Menschen, von denen ich das kaum vermutet hätte, wissen vielfältige Variationen des „Pass gut auf Dich auf“. Das tut gut, und gibt den Vorbereitungen immer wieder einen eigenen Klang. Die leichte Besorgnis in der Stimme mancher Leute lässt mich wieder mal darüber nachdenken, was die Leute in Wirklichkeit sagen wollen. Wie sind wir doch logisch (unreflektiert pragmatisch?): was wir kennen, geht in Ordnung, was nicht: suspekt. Meine Fahrtstrecke zur Arbeit produziert alljährlich Leichen – es wird hingenommen, no big deal. So gesehen sind ein paar Tage alleine unterwegs mit einer geringen Wahrscheinlichkeit, großen, schlecht gelaunten Fell-behafteten Säugern zu begegnen, sich eine Axt in das Schienbein zu pflanzen oder den Knöchel zu brechen objektiv eine eher weniger riskante Angelegenheit. Trotzdem reagiere auch ich zumindest mit Unruhe, zumindest für die ersten paar Tage. Gegen zig-tausend Jahre alte Programme im Kleinhirn kommt frau auch nicht so einfach an.
Nirgends zu Hause bekomme ich ein so großes Badezimmer. 1000 Meter tief, ca. 2 km lang – soweit das Auge reicht. Irgendwann nach dem Verdauen des sehr gemütlichen Brunches ist es soweit: heute am Ruhetag wird, wie sich das gehört, ein ausgiebiges Bad eingelegt, was mehr als den reinen Säuberungsteil umfasst. Rundblick (Pelztiere oder puritanische Kanadier in Sicht?), Foto und Spraydose strategisch plaziert, Klamotten aus ….. Jaaaa! Die Kälte ist nicht so schlimm wie schon gehabt; es ist Sommerende, und es wird noch ein paar Tage dauern, bis kaltes Wasser in größeren Mengen nachkommt. Aaaaalso, die politisch korrekte abbaubare Seife, das kleine Bürstchen, und erstmal das Kulturprogramm. Nach demselben schwimmen, die Gegenstromanlage hat genau die richtige Stärke. Nur weit ‚raus laufen muss man. Und dann: sitzen in der Sonne (der Zeitpunkt muss auch gut vor der nächsten Wolkenfamilie gewählt sein), trocknen. Die ersten kalten Nächte haben die Moskitos weitgehend entsorgt, so dass man eine Zeitlang sitzen kann, ohne hysterisch nach Kleidung zu suchen. Freiheit.
Menschen leben schon lange und vergleichsweise zahlreich an diesem Fluss, auch heute gibt es Orte, Hütten oder Mini-Siedlungen. Unsere Besuche in Gegenden wie diesen, mit bester Ausrüstung, der Aussicht auf baldige Rückkehr in Häuser mit Zentralheizung und fliessend warm Wasser sind eben nur das: Besuche, bestens abgefedert und nicht zu vergleichen mit dem, was viele hier durchgemacht haben, um hier zu überleben. Kurze, heisse Sommer, sehr lange & sehr kalte Winter. Ein Klima, dass kleine Fehler mit Höchststrafen belegt. Man kann sich kaum vorstellen, wie das wirklich war. Der Versuch rückt die eigene Zeit hier in einen realistischeren Rahmen, sollte er zumindest. Ich bin mehr als dankbar, einfach so hier sein zu können, ohne täglich den schmalen Grat zwischen Existenz und Nicht-Existenz gehen zu müssen. Was für ein Geschenk.
Es ist mitten in der Nacht, gegen 2 Uhr. Der Tee alleine ist es nicht, der mich weckt: die Wölfe rufen. In der Biegung hinter der Mündung des South MacMillan liegt das Camp. Am ersten durchweg schönen Tag wollte ich irgendwie nicht vom Fluss ‚runter, und kam noch bis hierher, sehr viel weiter als das ursprünglich anvisierte Tagesziel. Die Sonne schon tief, sehe ich überall z.T. ganz frische Wolfsspuren. Haben sie mich hierher gerufen? Jedenfalls liefern sie nun das Konzert, auf das ich gehofft habe. Beharrlich versuche ich zuzuhören und nicht ein zu schlafen, was mir auch eine ganze Weile gelingt. Ein paar Tage später begleitet mich dann einer der Grauen über längere Zeit am Ufer; ich wage es nicht, näher heran zu fahren, und beobachte ihn meist per Fernglas. Schliesslich legt er sich hin, unbeeindruckt und abwartend in meine Richtung schauend. Während ich weiter drifte, verschmilzt er mit dem Gras, in dem er es sich bequem gemacht hat.
Für jeden ist der Fluss ein anderer. Beim Betrachten so mancher Berichte kann ich mir mittlerweile ein (politisch unkorrektes) Augenrollen nicht mehr verkneifen: manche Menschen, die ebenfalls hier durchtreiben/ -paddeln, fühlen und hören dabei den Pulsschlag des Wassers nicht. In deren Schilderungen kommen Stress, deplazierte Selbstwahrnehmung als Abenteurer, (selbst ? verschuldete) Gefahren und dergleichen mehr vor. Klar, wer mag schon dauernd Regen oder offene Hände, angesengte Jacken oder was es an Pannen so geben kann. Gegenüber dem was der Fluss uns Besuchern gibt, ist das irrelevant. Schade um die Zeit und das Geld.
Dass man, wenn man alleine wandert, sich selbst begegnet, weiss jeder, der länger alleine unterwegs ist. Eine Solo-Paddeltour macht da keine Ausnahme. Mehr und mehr denke ich, dass Ablehnung dieser Sorte von Kurzzeitausstieg nicht primär durch die Angst vor wilden Tieren oder unkontrollierbaren Pannen hervorgerufen wird, sondern von der Angst mit sich alleine zu sein. Manches, was man da so trifft, mag nicht zum eigenen Ego passen. Und so wird übersehen, dass es auch gut sein kann, sich selbst nicht aus dem Weg gehen zu können. Man wird beim Denken nicht dauernd gestört. Und nebenbei: es gibt auch eher bodennahe, praktische Effekte – wieder zu Hause erzählt kein Mitfahrer noch nach 20 Jahren die Pannen beim Kochen/Zeltaufbau, Feuer machen ff. Die hat nur der Biber um die Ecke gesehen, der eher nicht nach Europa zum lästern reist.
Die nächste Insel nehme ich steuerbord. Wieder wollte ich schon vor einer Stunde Zelt aufschlagen, doch „Should I stay or should I go“/The Clash verfolgt mich auch heute noch. Bis in den Yukon werde ich brauchen, bis ich diesen Titel endlich nicht mehr höre. Bei der Vorbeifahrt das gewohnte Bild: an der Spitze flussauf Reste der Verwüstungen aus dem Frühjahrs- Hochwasser und gröbste Brocken; danach steil, weil frisch abgerissene Seitenflanken voller abgebrochener Baumstümpfe und anderem Kleinholz, und dann am Ende: kleiner und kleiner werdende Kiesel und – feiner Sand. Aus meiner Bonsai-Stehhöhe kann ich nicht über die Böschung sehen, ich klettere hoch. Strand, mit perfektem Wellenmuster in dezentem braun-schwarz – wunderschön. Es entstehen diverse Fotos von Sand und Kies, erstaunlich für eine Badeurlaub-Verachterin. Auch wenn ich die Einsamkeit geniesse, freue ich mich für die Schweizer, die eine ganze Weile später noch eintrudeln, und diesen Platz auch sofort mögen. Die Sonne geht später flussab unter, die Szenerie schrammt je nach Geschmack hart am Kitsch vorbei. Ich sitze vor dem Zelt, lese, schreibe, und fühle mich unbeschreiblich wohl. Das Klackern von ständig den Steilufer an der Aussenkurve herabstürzenden Steine: Zen-Musik.
In der Mitte der Tour vergleichweise viel Zivilisation: Pelly Crossing, Pelly Farm, Fort Selkirk. Auf dem Gelände von letzterem habe ich schon vor 15 Jahren mal übernachtet, und mag auch diesmal dort bleiben. So kommt eine kleine Halbetappe zustande. Auf dem Weg liegt Pelly Farm, deren nette Einwohner, die Bradleys, völlig autark leben und sich gerne um Besucher kümmern. Und so wandern wir zwischen uralten Dreschmaschinen, frischem Gemüse, gackernden resp. eierlegenden Hühnern und der Wetterstation staunend umher. Nach dieser Besichtigung ist’s nur noch ein kurzes Stück bis dem restaurierten ehemaligen Handelsposten Fort Selkirk, direkt an der Mündung des Pelly in den Yukon. Die Schweizer Kollegen kommen und gehen, später kommt das Quartett aus Wien, und legt ebenfalls eine Sightseeing-Runde in den alten Häusern ein.
Weiter flussab muss es gehörig gewittern, die Wolkenfront ist spektakulär, verschont aber unseren Platz. Bannocks brutzeln in der Pfanne, Moskitos ertrinken im Tee. Nachts wird es ausnahmsweise mal klar (und kälter); ich gehe nachts mal raus, Tee wegbringen, schaue mir den Sternenhimmel an, aber aus dem erhofften Nordlicht wird nix. „Nur“ Sterne.
Warum macht man/frau sowas. Da ist z.B. die einfache Welt, in der Tag für Tag Basics ablaufen, ohne Getue, ohne Theater, ohne Schubladen. Mein Tun hat eine einfache, praktische Relevanz, incl. der Pannen. Nach ein paar Tagen unterwegs beginnt mein Hirn ganz sachte wieder vernünftig zu arbeiten. Die Konzentration kommt wieder, der Schlaf ist ehrlich und tief, ebenso der Appetit. Kein Futtern unachtsam oder aus Frust. Ich habe das Gefühl, endlich wieder atmen zu können, wirklich zu leben. Und nicht irgendwie zwischen treiben und getrieben werden von einem Tag zum nächsten zu wanken. Keine hirnamputierte, sinnfreie Geschäftigkeit, rattenkäfighafte Aggressivität, nichts Beliebiges, dafür Platz, Ruhe, Präsenz. Schön.
Na klar, da gibt auch meine alten Freunde, die pelzbesetzten Säuger – je größer, desto besser. Nun, „Freunde“ ist übertrieben: sie lassen mich in ihre Welt ‚rein, geben gelegentlich eine Audienz, und sehen mich weitaus öfter als umgekehrt. Ich fühle mich nicht beobachtet, doch eher begleitet. Die Mistviecher, die mich süchtig nach diesem Leben gemacht haben, sind hier nicht anzutreffen: die Loons. 1991 habe ich sie zum ersten Mal gehört, damit war das Thema dann erledigt. Wenn ich nicht immer wieder hierher darf, wo die Kumpels der Eistaucher leben, werde ich unerträglich.
Der Yukon wird breit. Wenn Wind, dann wie gehabt Gegenwind, und auch das Wasser von oben meldet sich immer mal wieder. Morgens gibt’s schon ordentlich Nebel, und klamme Finger: Herbst. Der morgendliche Ablauf hat Routine: Wach werden – richtig wach werden, ‚raus, aus dem Zelt, Lage peilen, Tee, Packen. Bis alles fertig ist, dauert das ein bis anderthalb Stunden. Dann ein Stückchen auf dem Fluss, gefolgt vom Brunch an Bord. Nirgendwo schmeckt Erdnussbutter auf Brot so gut wie im Boot, angerichtet auf dem Paddelblatt. Da die Baumleichen nicht mehr mitten im Fahrwasser liegen, um harmlose Paddler aufzuspiessen oder zu kentern, wird auch das Treiben sehr entspannt. Die Landschaft ist was für das Aquarellmalerauge – mit zusammengekniffenen Augen kommen die Inseln, Berge und das Wasser leicht verschwommen gut zur Geltung.
Auf dem Weg zum letzten Camp mitten im Wasser ein Baumstamm mit Ohren, der auch noch quer zur Strömung treibt: Ein Schwarzbär. Als er mich bemerkt, werden dessen Schwimmstösse etwas hektischer. Er will mir auch nicht näher kommen, so passieren wir uns in respektvollem Abstand. Bär sucht Beeren auf der großen Insel, also fahre ich noch eine Stunde weiter für das letzte Camp auf einer Kiesbank – frau weiss ja nie. Viel Treibholz, nochmal der graue Sand. Und zum Abschluss ein schwarzer Fuchs auf der großen Insel gegenüber, der lange bis ihn die Dämmerung dort wohl nach Futter sucht. Ich mache Fotos von einem erschöpft-entspannten Stofftier – Bullwinkle der Elch – im Bug meines Bootes.
Am Zielort – hier ist es Dawson – sind die ersten 24 Stunden immer schwierig. Ja, ich freue mich über die Cabin und ein Zelt, dass zum ersten Mal seit ich hier bin nicht feucht oder gar nass verpackt werden muss. Aber der Übergang in die Zivilisation ist immer nichts für schwache Nerven. Natürlich, es regnet, Dawson sieht dementsprechend aus; ich kaufe ein Hose, weil die Jeans in Whitehorse geblieben sind und ich aus den blauen Dingern mal ‚raus will. Schlechte Laune weht mir voran, ab morgen wird es gut, und ich werde schon die erste Folklore zu den vergangenen zweieinhalb Wochen dichten.
Essen, Kultur, Goldgräber-Geschichten. Dass der lange Weg nach Hause beginnt, wird überdeckt von ein paar Bieren im Spielsalon. Der Rest ist Reisen.