Eine Woche im September

Ottawa Tea Store, 53 York Street. Die nette Bedienung schüttelt den Kopf über das verschlafene Ottawa, und trauert ihren Zeiten in Vancouver nach. Ich schmunzle vor mich hin, bezahle und versuche endlich wach zu werden. Nach diversen Jahren endlich wieder für mehr als einen Zwischenstop in dieser Stadt laufe ich auf alten Wegen durch die Stadt und besuche Freunde.
Das Wiedersehen mit dem Rand des kanadischen Schildes darf nicht fehlen. Nach diversen Diskussionen mit meiner ehemaligen Roommate Dot (die mich mal wieder beherbergt) und einigen anderen Kollegen über mögliche Ziele „in der Nähe“ für die Paddeltour (French? Spanish? Nord-Temagami? ….) kommt ein Vorschlag von John. Seine Tochter MarieAnn fährt zusammen EvaLisa im dritten Sommer die 1789 Mackenzie-Route quer durch Kanada ab, sie nähern sich von Westen dem Ende der Gesamttour und er will sie eine Woche begleiten. Ob wir denn nicht mit wollten, sie wären dann am Rande des Temagami-Gebiets resp. dem oberen Ottawa River? Na klar…
Also: Flocken, dried apricot, Kakao, soy grits, falafil,… – „that should be enough, don’t you think so??“ kommt’s aus dem Hintergrund. Ich stehe mit meinem dt.-engl. Futterpackzettel vor dem Weihnachtsgabentisch, und schätze pi mal Daumen ab, was wir so mitbringen müssen. Es sei noch genug Futter da, und wir sollten nicht soviel einpacken, sie würden uns gerne was kochen.. Klingt gut, aber dennoch – die vorsichtige Hausfrau meldet sich. Und nochmal Dot: „Is this your towel?“ So taucht endlich rechtzeitig ein feucht-muffeliges Etwas auf, was seit der letzten Wochenendaktion abgetaucht war. Schwarze Löcher geben doch immer wieder etwas zurück.

Samstag
John treffen wir in Deep River. bekannt durch hohe Wissenschaftlerkonzentration – in der Nähe ist das KKW Chalk River. Dort ist aber auch ein Outfitter, dem wir vertrauensvoll Dot’s Fahrzeug hinterlassen, damit er uns in einer Woche wieder abholen kann. Boote werden phantasievoll geladen, und natürlich gibt’s in dem Shop noch was Leckeres zu essen. Irgendwann geht es dann doch weiter.
Es ist später Nachmittag, bis wir am Lake Timiskaming ankommen. Die Sonne lacht, der Wind kommt aus der richtigen Richtung, die Wellen stammen vom stürischen Mittag; abladen, packen. Jetzt müssen wir nur noch die Mädels finden. John hat das ganz dicke Telefon dabei, checkt (auch pi mal Daumen) die Position von Tochter & Freundin, und wir fahren schräg am Sonnenuntergang vorbei ein paar Kilometer flußab auf die andere Seite. Empfang im Windschatten, mit Nudeln & Tee & Idyll.

Sonntag
Nach dem längeren Wiedersehens-Abend ist auch morgens keine Hast. Vater und Tochter schauen sich Fotos an, Dot paddelt, EvaLisa strickt, ich schwimme. Spät geht’s los, und wir beginnen direkt mit einer Segeleinheit.
Der obere Ottawa liegt am Rand des präkambrischen Schildes, der große Teile Kanadas bestimmt. In dieser Gegend sind Gesteine alter als 2,5 Milliarden Jahre neben jüngeren Schichtungen sichtbar. Ab Lake Timiskaming wendet sich der Fluss recht abrupt nach Süden, und folgt einem im Bereich des Sees mit recht jungen Gestein & Geröll verfüllten Graben. Bald tauchen in Quebec, also der östlichen Seite, wieder ganz alte, schroffe Felsen auf. Also hinüber – Fotosession.
MarieAnn erspäht später im steilen Ufer einen überraschend gemütlichen Zeltplatz. Am Abend also Nadelgeklapper, Tee, Blackflies und Wärmflaschen (es ist Herbst!!) mit Aussicht. Der Fluss bekommt Tee & Tabak spendiert.

Montag
Gegenwind. Was uns nicht abhält, weiter Felsen zu studieren. Und ebenso Boote. Die zwei Kanada-Durchquererinnen haben einen Souris Wilderness dabei, John einen Tranquility mit Steuerung vom   gleichen Bootsbauer. Zeit zum testen für alle  – im Laufe der Woche kommt jeder mal auf jeden Bootsplatz. Und beide Souris laufen….
Der Ottawa River ist für unsere Verhältnisse dünn besiedelt, freie Strecken wechseln mit Zivilisation ab. Er ist mittlerweile auch teils gestaut. Das macht ihn in manchen Abschnitten nicht so spannend wie andere Flüsse. Dafür fährt man auf alten Pelzhandels- und Holzfällerrouten, und es gibt zahlreiche Geschichten zum Fluss. Heute kommen wir näher an Cottage Country. Nach einem Rennen zwischen den Tandems nähern wir uns den Narrows. An einer wesentlichen Verengung des Sees gibt es einen wunderbaren Sandstrand incl. Campground (nur an dem einsamen Mülleimer kann man erkennen, dass es einer sein soll), den wir ansteuern. Ein schwergewichtiger Anwohner kommt mit Auto und Hund, und lädt für den folgenden Tag zum Frühstück ein.
Kochen, Feuer, Kekse. Geschichten, auch vom Ottawa. Das gesamte Tal dieses Flusses war berühmt für seinen Bestand an großen, alten Kiefern – „white pine“ – oder Weymouthskiefer, von denen man heute nur noch vereinzelte sieht. Als in Kanada des 19. Jahrhunderts die große Zeit des Pelzhandels seinen Zenit überschritt, war die Logging Industry noch am Wachsen. Mit der Unabhängigkeit der USA 1783 war ein Teil der Holz Vorräte Großbritaniens für Schiffe z.B. für die Napoleonischen Kriege entfallen. Zuerst wurde dann in Quebec gekauft, erst als es ein großes Raft von der Gatineau Mündung bei Bytown (Ottawa City) 1806 bis nach Quebec City schaffte, begann sich die Holzindustrie für das gesamte Gebiet des Ottawa zu entwickeln.
Bäume waren offenbar unerschöpflich, gehandelt wurde mit square timber, d.h. die Stämme wurden an Ort und Stelle in einen quadratischen Querschnitt gebracht, über 30% waren sofort Abfall. Ab Mitte des 19ten Jahrhunderts kamen mehr und mehr Sägewerke hinzu. Mit dem Verschwinden der großen Kiefern zu Beginn des 20 Jahrhunderts brachen die großen Sägewerke zusammen. Die heutige Holzindustrie lebt auch von der Papierherstellung (eignet sich auch für kleine Bäume..).

Dienstag
Frühstück bei Bert. Es gibt reichlich, wir machen uns soweit es geht nützlich. Beim Geruch der Würstchen hebt sich allerdings mein Magen; ich mogle mich mit Eiern und Toast durch. Man will ja nicht unhöflich sein, und außerdem habe ich Hunger. Erstaunlich, wie gut man dann seine Nase doch zumachen kann. Dafür gibt es im Wohnzimmer einen Elch in Form eines Wackeldackels, und einen Country singenden Fisch an der Wand. Fast wie zu Hause.
Wir paddeln bei Gegenwind bis zur Staustufe in Temiskaming. Die anderen vier von uns gehen shoppen (wagemutig bei der Größe des Ortes) und kommt später mit Muffins und Anstecknadeln zurück.. Ich bewache derweil die Boote, und lasse mir wieder etwas Geschicht(en) durch den Kopf gehen.
Temiskaming: größtes Hudson’s Bay Companies Fort am Ottawa, schon seit 1685, noch bis ins zwangzigste Jahrhundert in Betrieb. Der Platz hat demnach viel gesehen, von den Anfängen des Handels mit noch unabhängigen Indianern bis zur Zeit der ersten Flugzeuge. Die HBC überlebt in Form von landesweit verbreiteten Shopping-Malls. Temiskaming lebt im Wesentlichen von der Holzindustrie, was nicht einfach ist. In den Siebzigern übernahmen Arbeiter und Investoren die ansässige Papierfabrik, als sie geschlossen werden sollte. Mit der drohenden Schliessung wäre der einzige relevante Brötchengeber in der Stadt weg gewesen.
Also, für uns geht es weiter. Wir finden an diesem Tag keinen besonders schönen Platz; wenn’s dunkel wird und es anfängt zu regnen ist man zwangsweise nicht so wählerisch. Nudeln und Whisky finden heute unterm tarp statt, Nebelschwaden allüberall.

Mittwoch
Nochmal Regen. EvaLisa stellt den Walkman auf volle Lautstärke, zwecks Anhebung der Moral. Was auch funktioniert (es ist auch nicht relevant, dass Country aus dem Lautsprecher kommt). Überhaupt ist die Gruppe mehr als angenehm. Wenn es regnet oder bläst, na, dann ist das eben so, und man kann sich den Tag auch so angenehm machen. Denn wir müssen auch noch einmal improvisieren. Es kommt eine Strecke mit Rückstau des nächsten Kraftwerks, und es gibt beim derzeitigen Wasserstand kaum gute Zeltplätze. An diesem Abend müssen wir uns Flächen zwischen den Bäumen freihauen; und die Küche ist am Abend gerade mal 5 cm über Wasser, am morgen 5 cm darunter…
Ottawa: die Namensgeber der Region – die Odawa – waren eigentlich nur etwa 30 Jahre als Handelspartner in der Gegend – zur Zeit, als die Europäer offenbar einen Namen suchten. Die wesentlichen Indianergruppen aus der Zeit, in der Europäer ins Land kamen, die Algonkin und Huronen, waren mittlerweile infolge der Kriege mit den Irokesen dezimiert oder vertrieben worden.

Donnerstag
Wir nähern uns Mattawa. Aber erstmal zwei Stunden paddeln zum Frühstück, die Küche stand ja unter Wasser (siehe oben).  Dann einmal über den Hügel um das Kraftwerk herum. Wandern mit großen Säcken und Booten auf den Schultern. Dot schwärmt uns kontinuierlich von Kuchen im „Valois“, der Kneipe am Ufer des Ottawa in Mattawa vor. Der Beschluss ist gefasst: wir müssen die Kuchen testen, und bleiben dann auch dort. Dot sorgt dafür, dass wir am und auf dem Bootssteg nächtigen dürfen, also steht dem Verzehr von Kuchen, Bier & Steaks nichts mehr im Weg.
Mattawa. Hier trifft unser Weg auf die Pelzhandelsautobahn, die hier den Ottawa hochkommend nach Westen abzweigt, den Mattawa River über Lake Nipissing und den French River bis Georgian Bay, dann zu Lake Superior usw.. folgend. Auch die ersten weißen Kundschafter nutzen bald diese Route. Etienne Brulé, Champlain, Radisson, Thompson, Mackenzie, Simpson – alle sind sie hier entlang.  Nur hatten’s die immer deutlich eiliger wie wir. Aus der Mitschrift eines Mitfahrers von George Simpson: „September 9th – prob. 3 ½ am, breakfast 9am .. camped at sunset.“ Die Tagesleistung der Pelzhandelsvoyageure war enorm, und bei den paar Stunden Schlaf, den Wetterbedingungen und den Lasten, die transportiert wurden, ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht alt wurden. Und das alles wegen der Filzhutmode in Europa (abgesehen von der fast-Ausrottung der Biber..). Wir haben schon seltsame Marotten mit noch merkwürigeren Konsequenzen.

Freitag
Der erste Tag ohne Regen oder Wind. Und endlich Inseln zum zelten. Die Bahn fährt direkt am Ufer vorbei, und als wir winken, trötet sie zurück. Ich probier’s mal wieder mit angeln, halbherzig. Und versuche Insel und halberversunkene logs (verlorenen Baumstämme vom Holzhandel) zu fotografieren. Es gibt shepherds pie, Geschichten, und Kartenspiele. Die Kalauer des Tages werden rekapituliert: funny german bringt Wörter durcheinander, Canadians erfinden neue… aus roibosh-tea wurden worry-biscuits (was das wohl sind – Psychopharmaka??), undertrowsers gehören wohl ins 19. Jahrhundert und was dinglefarbs sind, weiss keiner mehr so genau… Der Pegel in der Whiskyflasche sinkt.
Wir zählen die Tage durch, seit wann MaryAnn & EvaLisa unterwegs sind. 309 verteilt auf drei Jahre, und es kommen noch ein paar bis Montreal dazu. „Easy going“ und ein gutes Stück Gemeinsamkeiten gehören schon dazu, das Unternehmen für die lange Zeit so gut hin zubekommen. Es macht immer wieder Spaß, solche Leute zu treffen oder ein Stück mit ihnen unterwegs zu sein.

Samstag
Dot hat mein Buch über die wahre Geschichte der Piraten entdeckt und liest – was unüblich ist – auch morgens noch ein Stück. Muss spannend sein.
Das Wetter meint es nochmal gut mit uns, und so müssen wir unterwegs baden. Wir sehen unterwegs bald eagle – Weisskopfseeadler. Die Tiere werden wieder heimisch hier, nachdem sie vor Jahrzehnten vom DDT in den Eierschalen erledigt wurden. Manchmal wird‘ dann doch.
Wir bekommen zum Abschluß einen dieser Zeltplätze mit Aussicht und großen Felsplatten, wie ich sie so liebe. Lasagne stand auf dem Speiseplan. Und paddeln in der Abenddämmerung.

Sonntag
Ein letztes Mal packen. Zumindest für uns Begleittruppe. Wir gehen in Bissett Creek ‚raus, die Mädels paddeln weiter. Sie wollen nach Montreal, bevor es richtig kalt wird. Wir  verladen wieder auf das wunderbare Hängerlein, und rollen abends in Ottawa ein.