Die Gletschermaus

.8.2002
Dem Donner fehlt der gewohnte Peitschenknall. Das Grummeln kommt zurück, reflektiert von den umstehenden Bergen. Kurz danach wieder Stille – absolute Stille, so dass das Rauschen in den Ohren hörbar wird. Das erste Mal seit dem Tourbeginn vor zwei Wochen – Bächlein, Wind und Regen haben diese absolute Stille bislang verhindert. Gletscher haben ihre eigene Melodie, um auf ihre Größe hinzuweisen. Und auf ihr Sterben.
Durch den Zelteingang ist die typische Funzelbeleuchtung eines Halbmondes zu erahnen. Ich bin zu wach, um sofort wieder einzuschlafen. Der Mond steht über dem Gletscher, und natürlich kalbt er nicht nochmal, solange ich draußen bin und erwartungsvoll Richtung Abbruchkante linse. Das geschieht erst, als ich wieder im Schlafsack liege und fast wieder eingeschlafen bin.

Glazier Bay National Park, Sandbank am Zugang zum McBride Gletscher. Höhepunkt nach einer Woche stabilen, geradezu heißen Wetters. Wir bleiben nach fast der Hälfte unserer zweieinhalb Wochen Paddeltour im Park für zwei Tage an diesem Platz, eine im Nachhinein weise Entscheidung. Der Wetterumschwung wird einen Tag nach unserer Weiterfahrt kommen, und wir dürfen uns über eine weitere Woche hinweg mit Regen, Nebel, Sturm etc. beschäftigen. Für nordpazifische Verhältnisse dürfen wir dankbar sein: es könnte ja auch drei Wochen am Stück regnen. Wir: Tatjana und Hermann, die vro Jahren schon mal hier waren, Claudia aus Frankenthal und ich selbst.

Landschaft – Wasser, Berge mit und ohne Eis, jeden Tag weniger Flora. Kein Baum in der Bay ist ein Methusalem. Der riesige Gletscher, der vor 200 Jahren das gesamte Buchtensystem bedeckt hat, ist seit Vancouvers Besuch massiv zurückgegangen, in diverse heute zu besichtigende Teilgletscher zerfallen, die insbesondere im Ostarm weiter zurückweichen. Das bedeutet in der Länge ein Abschmelzen über eine Strecke von ca.100 km in dieser kurzen Zeit. Unser Zeltplatz am McBride Gletscher war um 1960 noch am Fuße desselben; der Zeltplatz eine Tagesetappe weiter war um 1972 noch unter Eis. Die spektakulärsten Gletscher sind allerdings im Westarm, einge wachsen sogar; dort verkehren auch zweimal täglich die großen Tourboote, kleine schwimmende Städte. So haben wir im Ostarm, wo wir die meiste Zeit verbringen, unsere Ruhe.

Seitenmoränen hängen ein, zwei hundert Meter hoch im Hang. Überall sind Kies , Sand, Steinbrocken. Der Bewuchs ist in dieser, erst vor wenigen Jahren vom Eis verlassenen Gegend spärlich, Siedlerpflanzen, brüchiges Gestein beherrschen das Bild. Jeder Kilometer weiter in die Bucht bringt einem scheinbar weiter zurück an das Ende der Eiszeit. Aber nicht nur Menschen haben in jüngster Vergangenheit zu dieser schnellen Veränderung beigetragen – fossile Baumstämme und auch alte Geschichten der dort lebenden Indianerstämme zeigen, dass die Gletscher seit der letzten Eiszeit mehrmals in rasantem Tempo gewachsen und wieder abgeschmolzen sind. Das hat u.a. damit zu tun, dass es sich um Eisriesen handelt, die direkt ins Meer resp. Salzwasser münden. Bricht die Grundmoräne, die der Gletscher vor resp. unter sich herschiebt, unter ihm weg, hat das Salz leichtes Spiel das Eis abzunagen. Ein komplexes Zusammenspiel von Meereseinflüssen, Klimaveränderungen allgemeiner und anthropogener Herkunft bestimmt das Leben dieser bizarren, weiß-blau-schwarzen Welt.

4.8.2002
Bekommen Mäuse einen Herzinfarkt? Das größte wilde Tier, das es in eines unserer Zelte geschafft hat, ist eine Maus; wohl auch das Exemplar, das meine gebrauchten Taschentücher im Vorzelt geknabbert hat. Ich sehe den Nager noch im Eingang verschwinden. Nach kurzem Kriegsrat wird das völlig verstörte Tier mit vereinten Kräften, Palaver und Taschenlampeneinsatz wieder aus dem Schlafsackchaos verscheucht. Nützlich, wenn man schon als Kind Mäuse eher putzig fand, und sie immer fangen wollte (nicht unbedingt zur Freude der Verwandtschaft).

Tiere – wir sehen mehr, als ich zu hoffen wagte. Am vierten Tag ist nahe am Ufer etwa 300m weg ein Buckelwal zugange: auftauchen – Buckel zeigen, abtauchen, „fischen“, auftauchen, mal etwas blasen, abtauchen usw.. Im Fernglas formatfüllend, im Amateurobjektiv der Kamera etwas zu klein – aber eigentlich sollte man sowieso mehr schauen und weniger fotografieren, damit der Ausschnitt im Gedächtnis nicht so rechteckig wird. Wir sehen jede Menge von diesen imposanten Tieren in weiterer Entfernung springen, und zu hören sind sie auch. Moby Dick lässt grüßen. Die kleinen Verwandten – die Schweinswale, begleiten uns fast täglich.

Wir durchqueren gleich am Anfang ein Rudel Seehunde. Neugieriges Volk – kaum dreht man sich ein bisschen um, platscht’s hinterm Boot – die vorwitzigen Tiere fühlen sich beim Verfolgen gestört. Und: allabendlich patrolliert eine Robbe vor unserem Zeltplatz. Wohl um sicher zu gehen, dass da alles mit rechten Dingen zugeht. An dem oben genannten McBride Gletscher bringt uns eine Truppe von fünf dieser intelligenten Tiere fast ums Abendessen und lässt uns gehörig frieren. Aus der Richtung des Gletschers kommend kommt diese Gruppe langsamst auf einer Scholle treibend, und die absonderlichsten Positionen einnehmend mit ablaufender Tide bei uns vorbei. Bewegung sorgt bekanntlich für ihre schnelle Flucht, also sitzen wir fast regungslos hinter unserem Küchenfelsen, in zitternder Hand unsere Kameras. Je näher sie kommen, desto dunkler und kälter wird es, aber das Schauspiel will sich niemand entgehen lassen. Irgendwann heißt es Suppe und Pudding – bei dem Kommando verschwinden die fünf dann auch im Wasser, und uns wird’s wieder etwas wärmer.

5.8.2002
Das Konzert von Austernfischern und Dreizehen-Möven. Flinke, kleine Möven stürzen sich minütlich an fast der gleichen Stelle ins Wasser. Beobachten. Die zeitliche Lücke zwischen Zeltaufbau und kochen nutzen. Die anderen kramen, fotografieren. Gelegentlich ein Blick über die Schulter, wegen der großen Tiere. Das brüchige Gestein macht lautlose Annäherung aber fast unmöglich. Sonne. Und eine Ahnung, dass das der letzte trockene Tag für eine Weile sein könnte.

Vögel ohne Ende. Kleine Odins Hühnchen und jede Menge Verwandte, also Vögel, die wie braune Miniausgaben von Hühnern aussehen, aber erheblich besser fliegen können. Die genannten Dreizehen-Möven, Austernfischer (deren Gemecker wird mich ewig verfolgen), und, wie fast überall im Norden, Weißkopfseeadler. In Prinz Rupert, einer unserer Anfahrtsstationen, kamen sie uns schon fast wie Hausstiere des Hafens vor. Von wegen selten.

Elche – ja klar, auch die. Mehrmals staksen sie durch unser Lager, einmal von uns beobachtet. Fährten und Hinterlassenschaften gibt’s des öfteren. Auch Bären sind da. Das Land gehört den Grizzlys, und wir sind ihre Gäste. Im allgemeinen sind sie diskrete Gastgeber. Nur ein etwas ungezogener, pubertierender junger Grizzly stört uns mal beim Essen. Ansonsten bleibt er an einem anderen Ort der Chef des Reviers, nachdem er uns gewittert hat, auf Distanz, sorgt nur durch einen sorgfältig hinter unsere Zelte gesetzten Haufen dafür, dass wir nicht vergessen, wo wir sind. Diese Hinterlassenschaft bestätigt auch die Vorliebe dieses Tieres für Beeren, vor allem rote. Am Ende der Tour sehen wir noch einen schwarzen Grizzly, der uns dann leid tut: unvernünftige Leute jagen das Tier einen Hang hoch, anstatt es seinen Weg am Hochufer weiterlaufen zu lassen.

Homo sapiens – wenige. Wir sehen unterwegs zwei geführte Gruppen, die mit wenig Zeit große Strecken zurücklegen müssen, und am Ende einen Familienausflug. Zwei ältere bärtige US-Amerikaner, die einen ganz fidelen Eindruck machen. Und zwei germanische Einzelfahrer. Aber das ist wieder ist eine andere Geschichte. Jedenfalls ist sehr wenig los, Balsam für die Seele von Menschen, die jeden Tag viel zu viele ihrer Artgenossen ertragen müssen.

Für offenes und Tidengewässer sind (See-) Kajaks besser geeignet als offene Kanadier, meine bevorzugten Boote für lange Touren. Also transportieren wir vier alle Faltboote nach Alaska, und ich sitze hier dann in einem Klepper T9. Packen – eine Prozedur, die entweder hohen Organisationsgrad oder endlose Geduld (oder auch beides) verlangt. Mehr als einmal verschwindet jemand kopf voraus im Boot, um irgendwelche Gepäckstücke entweder ‚rauszuholen oder auch zu verstauen. Was ist doch ein Kanadier so praktisch: Gepäcktonne öffnen – alles reinstopfen, Deckel drauf, ins Boot, anschnallen, fertig. Aber bei Wind und Wellen ist das dann nicht mehr so praktisch..

8.8.2002
Diesmal war das Wasser schneller. Noch zwei Gepäckstücke müssen ins Boot, aber schon schwappt`s an meine Zehen. Da hätte ich den Kahn auch weiter nach oben legen können. Also, Boot noch einmal hoch, fertig laden.. und gleich festhalten. Der Rest amüsiert sich über meine Energiesparversuche..

Apropos Tide. Bis zu 6 Metern Wasserstandsunterschied zweimal täglich – das heißt auch: abends immer erst mal Schlafplatz suchen, der über dem erwarteten nächtlichen Hochwasser liegt. Also Tidenkalender lesen (Füße in Meter umrechnen), das Ufer lesen können – wie hoch lagen den die Algen bei der letzten Flut? – und dann sicheren Platz bestimmen. Wenn der Tag schon lang, nass und kalt war, erfordert das doch etwas Durchhaltevermögen, vor allem, wenn der Platz dann doch nicht hoch genug oder ohne ebene Fläche ist.

Ist das geschafft, geht das Schleppen los. Alles Gepäck hoch, Zelte aufbauen, Küche aufbauen, drei Tonnen Lebensmittel mehrmals rumtragen (Küche – Lagerplatz – Küche..). Der Lohn: vorzügliches Essen, reichlich – Hermann kocht immer bestens. Ein wichtiger Bestandteil einer guten Tour – schlechtes, langweiliges oder gar zuwenig Essen hat auch schon öfters für größere Zerwürfnisse bei solchen Veranstaltungen gesorgt.

Und dann morgens – alles wieder an die Wasserlinie ’runter. Das kann ein Stückchen werden. Daher der Name – Touring oder Wanderpaddeln. Die Beine kommen hierbei nicht zu kurz.

9.8.2002
Nach dem Regen – der Nebel. Es entstehen Dutzende Fotos mit Baumleichen, Steinen und – Nebel. Friede geht von den Eindrücken aus. Und Ruhe ist nun auch bei mir eingekehrt. Die Tage mit der Beschränkung auf das Wesentliche – Essen, arbeiten (hier: paddeln, schleppen, Lager bauen), schlafen etc – haben die bekannte Wirkung. Und hier kommt auch das sogenannte schlechte Wetter zu seinem Recht. Nur im Wechsel erhält alles einen Wert. Man kann’s auch so sehen: durch die Hitze & Palmenfixiertheit der meisten Menschen gehört uns das Land mit eher zweifelhaftem Wetter und weniger zivilisatorischem Luxus (fast) alleine. Wie schön.

Regen am Pazifik – es regnet nicht unbedingt heftig, aber oft hat man mehr den Eindruck, in einer Wolke zu stehen – der Fuzzelregen ist überall. Und vor allem überall drin. Wohl dem, der ordentliche Klamotten hat. Ich beginne bald ein Loblied auf meinen Schlafsack zu singen. Wärme trotz allumfassender Feuchtigkeit, was will der Mensch mehr.

11.8.2002
Der letzte Paddeltag. Hohe, abgeschliffene Felswände zur Rechten. Und ein gnädiger Schiebewind. Wann merken wir im sogenannten richtigen Leben sonst so deutlich, wenn uns die Tide und der Wind gnädig sind?

Nationalpark – Schutz vor Bebauung und Ausbeutung (zumindest solange nichts gefunden wird), aber damit auch wenig Infrastruktur. Ein Boot, das täglich Touristen an die großen Gletscher fährt, macht auch an zwei Stellen unterwegs halt, um Paddler oder Wanderer einzusammeln oder abzuladen. Das ermöglicht bei den Entfernungen entspannte Fahrten, denn man muss nicht den ganzen Weg zum Eingang zurückpaddeln.

13.8.2002
Das große Palaver beim Laden ist vorbei. Der Touristen Katamaran hat uns alle aufgelesen, über 10 Leute und Boote; wir wärmen uns zum ersten mal seit über einer Woche so richtig auf. An der ersten heißen Schokolade auf dem Schiff verbrenne ich mir prompt dem Gaumen. Ob wir die Fähre arg ausstinken? Wenn ja, lässt sich das niemand anmerken…

Zivilisation – am Eingang des Parks gibt es eine große Lodge (Hotel in Form von Restaurant mit angeschlossenen Holzhäuschen statt Zimmern) mit guter Küche. Die Leute dort lernen uns vor und nach dem Trip recht gut kennen, denn gut Essen ist ja bekanntlich wichtig. Als wir zurückkehren, wird beim letzten gemeinsamen Abendessen ohne viel Federlesens Steak bestellt. Bei aller Trockenfutterkunst: Steaks sind nicht über lange Zeit transportabel, und unsere Angelkünste haben uns nur einen einzigen Fisch beschert – nicht genug zum Überleben. Heute steht wieder Fleisch auf dem Speiseplan..

14.8.2002
Neben der Fähre auf dem Weg nach Juneau und von dort aus über Ottawa irgendwann wieder in die Heimat grüßen Seeotter, Wale und Orcas mit einer Sondervorstellung. Und so geht resp. schwimmt, fährt und fliegt dann wieder jeder seines Wegs.