Etienne Brulé stand 1622/23 wahrscheinlich als erster Europäer am Lake Superior in Ontario. Die Huronen haben den Übersetzer von Samuel de Champlain mitgenommen. Viel von dieser „Entdeckung“ hatte er nicht, seine Begleiter und Führer haben ihn später ermordet. Ich versuche mir seine Verwirrung vorzustellen: Brulé steht am Meer, dieses hat alles was dazu gehört, Felsen, Sand, Brandung, Horizont – aber die Luft riecht nicht nach Salz, das Wasser ist süß. Und China, was zu der Zeit noch intensiv über diesen Weg gesucht wird, ist auch nicht in Sicht. Was ein Jammer.
Fast vierhundert Jahre später stehe ich, eine Touristin und nicht wirklich ein Entdecker, auch hier am Strand und schaue zum Horizont. Wie man am besten nach China kommt, weiß man mittlerweile besser, auch ist die Verpflegung besser (hinter mir steht ein werkelnder dutch oven mit leckerer Füllung), und auch Übergriffe durch Einheimische sind eher unwahrscheinlich (wenn man die Armada von Moskitos nicht mitzählt). Sommerkanutrip am Lake Superior.
Dieses Jahr ist‘s mal wieder Zeit bei meinen Freunden in Ottawa vorbeizuschauen, Paddeln inbegriffen. Nach einigen familiär bedingten Umplanungen kommt eine Tour am Ostufer des Oberen Sees heraus. Zu sechst ab Ottawa per Auto kann man kann zur Not an einem Tag bis zum Ziel fahren. Wir finden zwei+ Tage mit Zwischenstopp in Sault Ste. Marie entspannter, einem bekannten Ort des Pelzhandles. Dort wird der gesamte Abfluss aus dem ersten/obersten der großen nordamerikanischen Seen auf einen schmalen Durchgang zusammengedrängt, die heutigen Schleussen haben eine Hubhöhe von ca. 9m. Die Vorgängeranlage von 1797 hatte nur ein Drittel davon und gerade genug Platz für die großen Montreal Canoes der North West Company, 10 Meter lang. Der zugehörige Kanal trennt seit langem die USA von Kanada.
Endlich paddeln: binnen 10 Tagen geht’s von Hattie’s Cove bis zum Ziel. Die ersten 90 Kilometer führen in fast südlicher Richtung entlang des Pukaskwa Nationalparks, danach beginnt sich das Ufer nach Osten zu wenden und es sind nochmal ca. 90 km bis Michipikoten. Links das Ufer, rechts das Meer – pardon: the „Lake“ – so geht das nun fast tagtäglich für anderthalb Wochen.
Stehendes Wasser mit einem gewissen Gegenwind sorgt für kleine Geschwindigkeiten des Kanadiers. Das Ganze wird dann passend kombiniert mit einem rauhen Ufer. Der Winter bringt Eis, es gibt Stürme, die das Treibholz wie Streichhölzer in die Buchten treibt und flache Ufer z.T. unpassierbar macht oder gleich ganz zerstört. Die Parkverwaltung besteht auf der Nutzung gekennzeichneter Plätze am Ufer zum Übernachten (gegen eine nette Gebühr), doch sind solche an diesem dritten Tag nicht aufzufinden resp. unter Holzfriedhöfen begraben. Wir dehnen die Etappe mehrmals in die Länge und suchen uns einen Platz, der passt (ohne parkwächterlichen Segen).
Meine kanadischen Freunde haben eine Vorliebe für britisches Essen; so dürfen wir nach der langen Etappe gestern länger schlafen und es gibt zur Belohnung zum Früstück „cream of wheat“, eine der zahlreichen Porridge-Varianten, bei denen sich bei mir immer der Appetit verflüchtigt. Ich suche also die Müslitonne auf, die Energiereserven auffüllen. Der Regen lässt nach. Wir erreichen einen Wasserfall, der zum üppigen baden und duschen einlädt. Summertime.
Point de Canadienne – berüchtigt für viel Kabbelwasser – macht an Tag 5 seinem Namen alle Ehre. Gegenwind und Dünung dazu – Beweglichkeit in den Hüften ist gefragt. Die alten Voyageure haben den Lake Superior nicht ohne Grund auch gefürchtet. Wir fahren in einer wettertechnisch günstigen Zeit, jedoch können selbst jetzt Wetterumschwünge und Fallwinde plötzlich kommen. Das Wasser ist sehr kalt, man kann tagelang wegen Sturm festsitzen. Wir werden Glück haben, echter Sturm bleibt uns erspart, wissen wir aber vorher nicht. Unterwegs treffen wir an diesem Tag eine Gruppe in einem Voyageurkanu. Darin die Nachbarn von Dot, meiner ehemaligen Mitbewohnerin während meiner Zeit in Kanada; wir hatten gewettet, wann wir die Kollegen treffen: wir paddeln nach Süden, sie nach Norden.
Wir verlassen den Park, paddeln zusehends nach Osten – und die Karibik beginnt: Sandstrände, blaues Wasser, Sonnenschein. Die Palmen sehen allerdings etwas merkwürdig aus, die Wassertemperatur ist eher im einstelligen Celciusbereich und der Kellner mit den Cocktails kommt auch nicht bei. Naja, frau kann nicht alles haben, und so koche ich meinen Tee eben selbst, Füße im Sand und Kopf im Moskitonetz. Dagmar backt Brot, das Dinnerteam bastelt am Abendessen. Später kommen noch die no-see-ums (Gnitzen) als späte Gäste ins Zelt, Strafe für einen vorübergehend nicht ganz geschlossenen Reißverschluss.
Tag 7: es kommt eine lange Cliff-Strecke, an der anlanden schlecht oder gar nicht möglich ist. Oft bauen Südwestwinde hohe Wellen auf. Wir erreichen die Stelle gegen 15 Uhr. Der Wind schläft ein. Wir fahren weiter, und passieren die Strecke auf spiegelglattem, öligen Wasser. Zur Belohnung gibt es abends Cardamonschokolade.
Dog River erreichen wir tags darauf in der Brandung, die eine gewisse Dynamik beim Aussteigen erfordert. Angekündigter Regen und Nebel haben sich verspätet, wir machen es uns an dem schönen, weiten Platz noch im Trockenen gemütlich, morgen gibt’s einen Ruhetag. An dem ich mal wieder nach vergeblichen Angelversuchen lieber mit der Kamera arbeite – und ausschlafe. Fisch-Wissenschaftler kommen vorbei und messen die Häufigkeit einer parasitären Fischsorte (Meerneunaugen), die über den langen Seeweg hierher verschleppt worden ist und die heimische Fauna durcheinanderbringt. Die Messknechte verschwinden genauso im Nebel wie eine Gruppe US-Amerikanerinnen, die mehrere Wochen mit Seekajaks unterwegs sind und an uns vorbeigleiten. Nachmittags klart es auf, es gibt Romanvorlesungen, Zimtschnecken und Resteessen.
Last day on the water. Zum Schluß entweder 12 km Bucht ausfahren oder 4 km Überquerung offenes Wasser bis zum Endpunkt. Der Tag beginnt friedlich, an der Halbinsel treffen wir einen gesprächigen Motorbootfahrer. Der Wind frischt auf, wir treiben aufs offene Wasser und machen uns auf das letzte Stück Weg. Zum Abschluss lässt uns der See noch mal wissen, wer der Chef ist. Wir reiten den achterlichen Wind ab, die Wellen werden größer, manchmal rollt das Wasser schon ins Boot. Doch es reicht bis zum Ufer; eine Bachmündung sorgt für eine halbwegs trockene Landung. Geschafft.
Ein letztes Camp am Ufer, großes Essen, stundenlanges Betrachten der Brandung und ein Bilderbuch Sonnenuntergang. Tags darauf geht’s gen Süden, Felszeichnungen anschauen – danach trennen sich unsere Wege; Dot und ich nehmen die längere Route über das McMichael Museum in Kleinburg und das Canoe Museum in Peterborough nach Hause, ähem Ottawa.
Quintessenz: Schöne Tour, tolle Truppe, anderer Charakter des Gewässers als sonst, Küste ohne Salzwasser. Keine großen Pelztiere (für dieses Thema und die Loons sind wir anschließend noch auf Stippvisite in den Algonkinpark), diverse Falken und Adlerarten. Aber das nächste Mal geht’s wieder auf einen Fluß…