Steine, Steine, Ger…

Sambo hält schon wieder vor einem Ger und fragt offensichtlich nach dem Weg. Es wird Abend; ich möchte, dass wir endlich ankommen, denn seit ein paar Stunden hat mich Montezumas Rache in Form von Darmkrämpfen bester Qualität erreicht. Die letzten Kilometer zu unserem Einsatzpunkt am Chuluut Gol führen über Steppe ohne für uns erkennbare Markierungen. Fahrzeugspuren verzweigen sich und krümmen sich unentwegt, so dass die Auswahl oft aus dem Gefühl und recht spät geschieht. Eine dynamische Anreise. Was mache ich hier eigentlich?

Wie immer fängt alles ganz harmlos an. Nach der vor ein paar Jahren erfolgten ganz persönlichen mongolischen Invasion von Bärbels Haus durch ein Quartett von Musikern entsteht beim gepflegten Brunchen die Idee, statt immer nur Elche und Bären einmal Kamele und Gers (mongolisch für Jurte) vom Fluss aus zu beobachten – und wenn’s geht noch mehr. Gesagt, getan – bis die Urlaubspläne von uns allen koordiniert werden können, wird es 2008. Spontanität hat so ihre Grenzen. Dazu kommen Claudia vom KC Frankenthal und Tatjana vom Bodensee. Nachdem letztere ein paar Wochen vor der Tour beschlossen hat, vom Fahrrad über den Lenker abzusteigen, bleiben für die geplante Flusstour noch drei von uns übrig (Tatjana erkundet derweil die weitere Umgebung mit Sambo – unserem Fahrer, Anton – unserem Bus und ihren Titanschrauben in der Speiche).

So hoffe ich auf ein baldiges Ende des Gehoppels. Draussen zieht Rohan vorbei, so dass ich vorübergehend sogar die Krämpfe vergesse. Nach 650 Kilometern in zwei Tagen auf zum Teil nicht existierenden Straßen  erreichen wir den Zusammenfluss von Sumon und Chuluut Gol. Es wird dämmrig, bis wir nach Campaufbau zum Essen kommen. Morgen geht‘s endlich los. Zur Begrüßung kommt noch eine Herde Yaks vorbei.
Der erste Tag auf dem Wasser ist ein kurzer. Bis beim ersten Packen alles so sitzt, wie’s soll, vergeht Zeit. Gegen Mittag schwimmen die Boote auf dem Chulut. Seine Begrüßung ist vom Feinsten. Nach der zweiten Kurve erscheint Grand Canyon in Mini-Ausgabe: Basaltsäulen, Eruptivgestein, rote Wände. Besonders intelligent sieht man mit offenem Mund nicht aus, aber es sieht vermutlich niemand. Unser Einsatzpunkt liegt 30 östlich des Taryatu-Chulutu Vulkans, der vor 5000 Jahren zuletzt ausgebrochen ist, und zur sibirisch-mongolischen Kontinentalkollisionszone gehört. Es ist nicht zu übersehen.

Die ersten Stromschnellen erinnern mich daran, dass ich fast nichts im Magen habe. Kein schweres Wasser, aber dauernd muss man irgendwelchen Brocken ausweichen, und das kostet mit etwa 80kg Zuladung (ich „musste“ Essensvorräte & die Küche an Bord nehmen, damit die anderen beiden mehr Platz in ihrem Boot hatten – grosses Opfer) ein bisschen Kraft. Naja, lange dauert’s nicht; abends gibt’s 99% Sonnenfinsternis, wir suchen uns bald schon einen wunderschönen Platz (Edoras..?). So kauen wir bald friedlich und glotzen mit folienbewehrten Brillen in die vorübergehend schwächelnde Sonne.

Ca. 600 Meter Gefälle auf 200 Kilometer müssen ja irgendwie realisiert werden, und das geschieht erfahrungsgemäß mehr am Anfang eines Bächleins. Der Chuluut liefert zudem auch, was sein Name verspricht: Steine. Jeden Tag neue Variationen davon. Unsere A-Noten beim zügigen seitlich Versetzen von vollgeladenen Kanadiern werden jeden Tag besser.  Im großen Gegensatz zu Skandinavien vollzieht sich der Höhenverlust meist kontinuierlich: ein Fahrstuhl nach dem anderen, unterbrochen durch Fliesstrecken mit (meist) gutem Tempo. Jeden Tag Weihnachtsbescherung.
Unsere Kanadier sind aus PE – sehr gut. Sie haben keine Spritzdecken – nicht gut.  So sind wir in den ersten Tagen doch des Öfteren mit Schöpfen beschäftigt, zumal die Bootsform eine Einladung zum Reinschwappen darstellt.  Ursprünglich zum Müslifuttern bestimmte Haferl erhalten deutliche Kratzspuren, da sie sich hervorragend für die Entfernung der immer wieder anfallenden paar Liter Wasser eignen.

Die Landschaft und ihre Bewohner überraschen uns. Lektüre und Filme haben nicht auf alles vorbereitet, was kommt. Den Wechsel von schroffem Eruptivgestein, immer wieder dazwischen auftauchenden Hochgebirgssteppen hatte ich nicht erwartet. Sprachlosigkeit, nicht nur im übertragenen Sinne. Unsere Augen, die den Rest des (Arbeits-) Jahres auf kürzeste Distanzen beschränkt werden, genießen die Freiheit, Weite zu sehen, stetig wechselnde Ansichten, Farbenfülle.
Einsamkeit und gleichzeitig immer wieder Menschen und Tiere schaffen eine eigene Stimmung auf und am Fluss. Dass ein Reiter, der uns verlässt, nach dem ersten flüchtigen Kopfdrehen förmlich vom Boden verschluckt wird, ist eine der ersten Lektionen, die wir lernen. Umgekehrt geht’s auch – so also funktionierten die Überfälle zu Dschingis Khan’s Zeiten ohne Vorwarnung (zumindest in der Steppe). Rollende Hügel, blassgrünes Gras (das nicht sehr dicht steht), gigantische Aussichten. Man braucht sich die dazu passenden Reiter nicht vorzustellen, sie kommen. Und öfter, als wir gedacht hätten. Auf ihren kleinen, drahtigen Pferden, die -30°C im Winter (meist) überstehen. Jedenfalls ist es uns bald klar, dass wir öfter gesehen werden denn selbst sehen.

Schon in den ersten Tagen auf 1700 Metern Höhe ist die Steppe meist besiedelt, und fast auf jeder größeren Fläche stehen zwei oder mehrere Gers, manchmal auch Holzhütten. Solarpanel, Satellitenschüssel Durchmesser 1m, Auto oder zumindest Mopett fehlen nie. Wir werden mit Interesse beobachtet. Mit so vielen Leuten haben wir nicht gerechnet. Und ihre Tiere sind auch da: Yaks, Pferde, Kühe, Ziegen, Schafe, auch Kamele. Manchmal im Wasser, manchmal am Wasser, oft neugierig, manchmal Wettrennen mit uns laufend. Die Schnelligkeit von Mensch und Tier ist beeindruckend. Eine Gruppe Reiter mit ein paar Yaks erscheint auf dem Hügelkamm, scheucht die Tiere herab, alles eilt zu der Furt, auf die ich zutreibe – und schon laufen sie über diese. Ich entscheide mich Gas zu geben – weiteres Treiben hätte im dichten Fell des vorderen Yaks geendet. Das Ganze hat keine Minute gedauert.

Und wie das so ist in (absolut gesehen) weniger besiedelten Gegenden: Tratsch geht in Überschallgeschwindigkeit über viele Kilometer, z.B. so: Am dritten Tag stehen zwei Gestalten am Ufer, und während ich begreife, dass der Mann nicht direkt asiatisch aussieht, schallt es über den Fluss:“Seid Ihr aus Baden?“. Wir hatten zuvor offenbar lautstark genug getratscht, um als Südwestdeutsche erkennbar zu sein. Aus dem Tandem hinter mir kommt dann ziemlich fix: „Ne, aus de Palz“. Gelächter – um die Biegung herum angelegt entpuppt sich das Duo als Ehepaar, er eben aus dem rechtsrheinischen Land, sie aus der Mongolei mit vorzüglichem Deutsch, die in Deutschland leben, und derzeit ihre Verwanden besuchen. Der Neffe hatte uns beim Boote abladen geholfen, und nun wird im ganzen Tal erzählt, da kämen drei Frauen in „sooo kleinen Booten“ den Fluss herunter. Die dabei demonstrierte Handbewegung deutet ein Boot in einer Länge von ca. 40cm an, das entspricht der Größe des Modells, das ich beim Tippen dieses Traktats auf meinem Bücherregal sehen kann. „Sooo große Rucksäcke“ hätte man noch hinzufügen können…. Die Busch- besser: Steppentrommel funktioniert weltweit.

Der frühe Nachmittag beschert uns in den ersten Tagen heftigen Gegenwind. So entwickeln Zivilisations-Langschläfer ungewohnte Aktivitäten um 6 Uhr morgens, und um halb neun morgens ist alles auf dem Wasser. Camp gibt’s dann vor dem Nachmittagstee. Dafür muffeln andere auf ungewohnte Weise morgens vor sich hin, bis endlich der Kaffee durch ist.  Touren dieser Art sind voller unerwarteter Überraschungen auch gruppendynamischer Art. Bei uns meist aus der Sparte „Seltsames und Komisches“.

Ich lasse das Boot drehen – der Fluss ist mein, zumindest in meinem Kopf und für ein paar Minuten. Nach zwei, drei Tagen ist das Gehirn vom Unfug, den man von zu Hause mitbringt endlich befreit. Innere Ruhe macht sich bemerkbar. Der nächste Fahrstuhl taucht im Augenwinkel auf, eine grüne Riesenlibelle setzt sich auf die Knöchel meiner rechten Hand. Sie lässt sich auch durch die nötigen Paddelschläge nicht beirren, und ich schmunzle während ich meinen Blick zwischen der Fahrtroute und dem zutraulichen Insekt hin- und herwandern lasse.  Alles stimmt.
Am vorletzten Tag – es ist noch früh – kreist ein Steppenadler noch recht tief genau über mir, und er lässt sich Zeit. Ich schaue nach oben, und stelle mir vor, dass er mir nochmal zeigen will, wie schön das hier ist. Aus der Begegnung mit viel Natur ohne die vollständige Abfederung durch Zivilisation gibt es zahlreiche Zitate, die auch auf die längere Wanderung mit und auf Flüssen übertragen werden können. Die Erfahrung von Demut ist darin oft ein Thema. Nicht der Kniefall vor meist falschen Autoritäten, sondern das Annehmen dessen, was man sehen und erleben kann. Irrelevant ist unser kleines geschäftiges Leben im Vergleich dazu. Wir spüren das hier jeden Tag, und es tut gut.

Einzahn kommt uns besuchen. Ein dürrer älterer Mongole kommt mit seinem halben Fernglas und macht uns in perfekt mongolisch klar, dass er uns schon eine ganze Weile gesehen hat. Wir bieten ihm Tee und Schnupftabak an. Auch Kekse, was uns angesichts des auf einen einzigen, riesigen Schneidezahn reduzierten Gebisses rätseln lässt, ob das so eine gute Idee war. Aber er lacht, und schwupp: sind die Kekse an ihrem Bestimmungsort verschwunden. Er ist genauso unkompliziert wie alle Mongolen, die wir unterwegs treffen. Ihm bereitet es offenbar viel Spaß uns beim Zeltaufbauen zu helfen. Später kommt noch einer der Sprösslinge des nächsten benachbarten Gers vorbei, und legt mit seinem Pferd zum Abschluss das hin, was man bei Autofahrern einen Kavalierstart nennt: hinweg im Galopp, dass die Steppe staubt.

Mein irritierter Blick geht scharf nach links: „…He, ihr seit ja noch da: ich dachte, ihr seid schon gefahren.????“. Am Schluss werden wir doch noch nachlässig. Karte und eine Info einer mongolischen-russischen Vermessungsexpedition von 1984 weisen darauf hin, dass nach 175km „noch was kommt“ – was auch immer. Die Berge rutschen wieder zusammen, und der Bach hört auf. Irgendwie habe ich getrödelt, die anderen sind voraus, das Tempo des Chuluut nimmt zu. Nach einer Linkskurve geht’s runter und in eine unübersehbare knackige Rechtskurve. Brocken liegen natürlich wieder hinlänglich herum. Wie zum Hohn sind ein paar hundert Meter oberhalb hölzerne Wagenteile am linken Ufer zusehen, fällt mir später wieder ein. Meine vermeintlich vorgefahrenen Mitfahrerinnen hängen also links in einem Pseudokehrwasser, grinsen und vermelden, dass der Weg „soweit“ frei wäre – ab dieser Stelle ist zumindest der erste Teil der Strecke einsehbar, aber Einfädeln in nicht vorhandene Kehrwasser ist jetzt auch nicht mehr. Ich beschliesse, dass ich eigentlich sofort zwei Meter nach rechts rüber will (querab) und dann nochmal Gas und nochmal links rüber und und ……… Gedacht, getan. Unser täglich Adrenalin gibt uns heute.

Ziegen, Ziegen, Schafe, määähhhhh. Bei dem Konzert ist an ein Mittagsschläfchen nicht zu denken. Das schattige Plätzchen wird nicht nur von uns geschätzt. Elvis läuft auch meckernd vorbei, so eine schöne Tolle kann nur einer haben.  Nach dem Ende der Schlucht öffnet sich die Landschaft und Steppe ist überall, mit all ihren Bewohnern. Kraniche stehen am Ufer und flattern auf, sobald wir vorbeikommen. Als wir endlich den Zufluss des Ider Gol geschafft haben, beginnt das Rätselraten, wo denn das Abholkommando uns einsammeln wird. Und siehe da: ein knatschorangenes Zelt steht am Ufer, Tatjana mit dem wertvollen Arm auch, und 10 Tage auf dem Fluss sind ganz plötzlich vorbei. Nach Bergen von frischen Pancakes mit Wurst und Käse, mongolischem Familienbesuch und dem Austausch des neuesten Tratsches kommt Sambo mit einer randvoll gefüllten 2l-PET-Flasche. Er hat Schafs-Kefir-Schnaps in einem der benachbarten Gers aufgetrieben, den wir umgehend annehmen müssen. Anderthalb Liter schaffen es bis nach Deutschland (andere Geschichte). Wenn ich Sehnsucht nach der Steppe habe, brauche ich nur das Fläschchen mit meinem Anteil zu öffnen: dann ist eine ganze Schafsherde in meinem Wohnzimmer – zumindest dem Geruch nach….

Zurück in Ulan Bataar. Das nächste Opfer von Montezumas Rache beschert uns dreien hier einen zusätzlichen Ruhetag vor dem zweiten Abschnitt unseres Urlaubs, der ohne Kanu stattfinden wird. Wir sitzen zu dritt im Stupa Cafe und schreiben: Tagebücher, Postkarten. Nebenan schläft eine andere Schreibwütige auf ihrem Laptop, und auch sonst ist’s sehr entspannt hier. Meine Gedanken hängen noch hinterher: Zwei Tage Rückfahrt nach Ulan Bataar mit dem „Special van UAZ-39625“ mit Passage durch den Chuluut Gol, nicht enden wollende Steppen mit unwirklicher Aussicht. Eine Autopanne ereilt uns auf einem Pass, ich verbringe die Wartezeit in einem Edelweissfeld mit Fernblick. Und am zweiten Tag zurück in der Haupstadt, tägliches Verkehrschaos, Lärm. Nur die Gesichter und die praktizierten Verkehrsregeln erinnern mehr an die Steppe.
Bilder kommen zurück, von Nomaden, am Ufer des Chulut Gol stehend oder laufend, die uns zum Bleiben einladen. Nicht alles konnten wir diesmal annehmen, also kommen wir wieder.

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Und zum Abschluss: es ist an dieser Stelle nicht möglich, mehr als einen beschränkten Einblick in diese Tour zu geben. Für Paddler ist die bescrhieben Flusstour besonders interessant;  natürlich fehlen nun Infos zum Land im allgemeinen, der problematischen Ökonomie, der Überweidung der Steppen, der etwas anderen Landschaft  im Osten und Süden, dem normalen Touristenbetrieb, der neueren Geschichte (die z.B. den Aufruhr kurz vor unserem Abflug verstehen hilft). Dass das so ist hat nichts damit zu tun, dass wir dies und Vieles mehr nicht auch bemerkt und erfahren hätten.