Von Pontonieren, Moscht und Chnüppi-Cup

„Sie waren schon einmal bei uns“ sagt der Rezeptionist am Campingplatz Eichwald in Bern freundlich aber bestimmt mit unüberhörbarer Schweizer Artikulation. Claudia und ich schauen uns an: waren wir sicher nicht! Langsam dämmert es uns: vor sechs Jahren hatten wir schon einmal eine Aarefahrt mit einer größeren Gruppe geplant und damals wegen Reservierung beim Camping angefragt. Wegen Hochwasser wurde das Ganze jedoch abgesagt. Jetzt erst wurde die Idee wieder belebt, allerdings blieben nur wir zwei übrig – also eine Damen-Gepäckfahrt.

Beeindruckt von der Gründlichkeit und dem Gedächtnis der Schweizer quartieren wir uns auf der wunderschönen Zeltwiese ein, neben der die Aare mit hoher Geschwindigkeit vorbeirauscht. Es ist noch früh am Nachmittag, eine Karte für den öffentlichen Nahverkehr ist im Campingpreis inkludiert, also machen wir uns gleich mal per Tram auf den Weg in die Berner Altstadt. Wegen der Meisterschaftsfeier der Young Boys Bern fährt die heute allerdings nur bis zum Hauptbahnhof. Wir Ahnungslosen erfahren erst auf Nachfrage, dass das die örtliche Fußballmannschaft ist, die ganze Stadt ist aus dem Häuschen. Also zu Fuß weiter, vorbei an großen beeindruckenden Sandsteingebäuden mit Arkaden und unzähligen Brunnen mitten auf den  fahnengeschmückten Straßen. Obligatorisch für Touristen ist natürlich das Berner Münster, wir aber besichtigen auch das Aarewehr mitten in der Stadt, das wir später beim Paddeln umtragen müssen. Später regt sich ein Hüngerchen, das wir auf dem Bärenplatz mit Rösti und regionalem Bier stillen. Erst spät fahren wir mit Unmengen von immer noch feiernden Fußballfans zurück.

Um 6 Uhr ist die Nacht zu Ende: eine nebenan wohnende Krähenkolonie gibt lärmmäßig alles, die anderen Vögel halten dagegen; jemand in Clogs klappert mehrmals den Asphaltweg entlang und um 7 Uhr beginnen am anderen Ufer beim Zoo Baggerarbeiten. So sind wir schon um 10 Uhr auf dem Weg nach Thun, wo wir die Einwassserungsstelle (Einsatzstellen gibt´s in der Schweiz nicht) an der Regiebrücke suchen und finden. Den ersten Flussabschnitt bis Bern paddeln wir noch ohne Zeltgepäck. Los geht die wilde Fahrt, die Aare spült ihr smaragdgrünes Wasser  mit  Supergeschwindigkeit in Richtung Bern, anfangs mit vielen Wellen und Preßwassern, Kehrwasser sind eher rar gesät. Wir sind regelrecht im Geschwindigkeitsrausch und nehmen in unserem offenen Kanadier ordentlich Wasser. Leider ist das Wetter nicht mehr so sonnig wie gestern, die Berge des Berner Oberlands, die den Fluß begleiten,  können wir mehr erahnen statt sehen. Nach 5 Kilometern kündigt eine Schwallstrecke die Uttigenwelle unter einer Eisenbahnbrücke an, die wir uns auf jeden Fall vor der Befahrung ansehen wollen. Vorsichtig  schleichen wir am Ufer entlang und finden rechtzeitig eine Treppe, an der wir rauskönnen. Die Welle hat’s in sich; wir sind uns schnell einig: umtragen statt Boot abfüllen! Wieder Einsetzen ist nicht so einfach, der Wasserstand ist relativ hoch, es gibt keine Kiesbänke nur Wackersteine zum Einsteigen.

Danach beruhigt sich die Aare etwas und fließt nur noch äußerst flott dahin, einzelnen Wellen kann man gut ausweichen. Überall gibt es wunderschöne Picknickplätzchen. Kein Wunder, dass dieses Stück im Sommer der Hot Spot der Berner Schwimmer und Schlauchbootfahrer ist. Jetzt sind wir aber ganz allein auf dem Bach und nach 2 1/2 vergnüglichen Stunden schon wieder an unserem Camping, mehr oder weniger nass.  Das Auto holen wir mit der Bahn zurück; was uns mehr Zeit kostet als die Paddeltour.

Die Wetteraussichten für den kommenden Tag, an dem unsere eigentliche Gepäcktour beginnen soll,  sind nicht sehr berauschend und pünktlich um 8 Uhr fängt´s an zu regnen. Netterweise bietet der Campingplatz einen überdachten und bestuhlten Vorplatz vor dem Sanitärgebäude an, wo wir erst mal in Ruhe frühstücken. Mittlerweile haben wir ordentlichen Landregen und beschließen noch eine Nacht hier zu bleiben und einen Kulturtag einzulegen.

Heute lernen wir die Berner Arkaden richtig schätzen, hier kann man auch bei Dauerregen trockenen Fußes spazieren gehen. Wir widmen uns ausgiebig dem Zentrum Paul Klee, einem Sohn der Stadt Bern und lernen alles über seine Malkunst, Künstlerbekanntschaften und Extase. Mittags wird der Regen weniger und als wir um 18 Uhr zurück zu unseren Zelten kommen, hört es fast auf. Dafür ist alles klatschnass und die Aare sattbraun statt smaragdgrün. Und kalt ist es geworden, so kalt, dass wir uns in der Campingbeiz heiße Schokolade und Rhabarberstreusel gönnen.

Am nächsten Morgen ist das Aarewasser wieder mehr grün als braun; wir packen alles naß zusammen und lassen uns von der Strömung mitnehmen. Wir rauschen in Richtung Bundesparlament, wo wir gegenüber wegen dem nun folgenden Wehr „Schwellenmätteli“ umtragen müssen. Die Aussatzstelle ist mit Schweizer Gründlichkeit unübersehbar beschildert und dank unserem Bootswagen ist die ca. 3oo m lange Umtrage auch gut machbar. An einer freundlichen Treppe mit Blick aufs Münster können wir wieder einbooten und weiter durch die Berner Altstadt rauschen. Freundliche Menschen winken uns überall zu, wir kommen jedoch kaum zum Zurückwinken, weil wir alle Hände voll zu tun haben, um bei der Strömung Brückenpfeilern und sonstigen Hindernissen auszuweichen. 2 Kilometer weiter kommt schon das nächste Wehr, an dem wir direkt neben der Wehrkrone aussteigen können. Es gibt einen Selbstbedienungsbootswagen, der aber wohl für bedeutend größere Gefährte als unseren Kanadier gedacht ist. Die Umtragestrecke ist jedoch nur ca. 20 Meter weit. Wir lassen allmählich Bern hinter uns, es wird grüner und einsamer. An einer Brücke weisen uns Slalomstangen auf das nächste Hindernis, die Worblaufenwelle, hin. Kurz vorher beim Pontonierfahrverein Worblaufen steigen wir aus und kucken erst mal. Die Hauptströmung läuft  durch das mittlere Joch, dahinter stehen einige Wellen: das fahren wir doch und haben unseren Spaß dabei. Wir nehmen zwar ordentlich Wasser, können aber gleich danach an einer Kiesbank ausleeren. Nebenbei lernen wir noch, dass bei den Pontonieren demnächst der Chnüppi-Cup stattfindet. Es gibt Schnürwettbewerbe sowohl im Einzel- wie auch im Gruppenschnüren. Der Wettbewerb wird eider erst später im Juni durchgeführt; schade, hätten wir uns gerne angesehen. Grinsend fahren wir weiter, es wird richtig schön, der Fluß mäandert mit flotter Strömung ohne Schwierigkeiten, die Sonne kommt ab und zu raus und das Leben ist schön! Langsam wir die Aare ruhiger und breiter, an den Ufern gibt es Schilfgürtel und statt Gänsesäger nun Blesshühner. Wir finden mit etwas Schwierigkeiten den Zugang zum Camping Eymatt bei Hinterkappelen; auch ein schöner großer Platz mit sehr freundlichem Personal und hübscher Zeltwiese. Allein die Baumaschinen verfolgen uns: gerade wird neben uns mit einem riesigen Kranwagen ein Container aufgestellt und um uns rum heftig Rasen gemäht.

Die Campingbeiz entschädigt für alles, bei dem  Angebot verzichten wir aufs Kochen. Zu Zanderknusperli und Pommes bekommen wir noch eine gratis Show der nebenan wohnenden Campingplatzziegen mit Zweikämpfen und Gemecker in allen Stimmlagen. Sogar einen Aufenthaltsraum gibt es hier, in den wir uns später wegen abendlicher Kälte verziehen und noch eine Runde Tour de Suisse spielen.

Zum Frühstück gibt’s Sonne, Brötchen und mal keine Baumaschinen. Endlich können wir unser klammes Zeug trocknen. Weiter geht’s anfangs noch mit etwas Strömung, aber bald beginnt der schmale, schlangenförmige Wohlensee durch den uns ein freundlicher Rückenwind hindurch hilft. Erinnert uns ein bisschen an skandinavische Seen mit steilen bewaldeten Hängen bis runter ans Wasser, hier mit vielen Schwänen, Haubentauchern und Ruderern. Das Wehr von Mühlenberg, das den See verursacht hat laut Führer einen spektakulären Bootslift, nur haben die Mitarbeiter genau bei unserer Ankunft Mittagspause. Also kommt wieder das Bootswägelchen zum Einsatz. Danach hat uns die einsame Aare mit flotter Strömung und schönen, hohen Sandsteinwänden wieder. Im nächsten Dorf soll es ein Café geben, wir machen einen Landausflug, finden aber keines. Dafür genießen wir eine Superaussicht auf die schneebedeckten Berge des Berner Oberlands. Nach der nächsten Kurve ist die Strömung schon wieder weg, das Wehr von Niederried kündigt sich an. Unmittelbar davor können wir raus und unseren Bootswagen beladen. Nur die Einwasserungsstelle direkt hinter dem Kraftwerksauslass dahinter ist ohne Worte: zwar gibt es eine breite Treppe, an der das Wasser mit heftiger Geschwindigkeit und ebensolchen Verschneidungen vorbeirauscht. Das Ufer daneben ist steil und bewachsen. Erst einen Kilometer weiter finden wir eine Kiesbank mit Schatten zum Picknicken und Einsetzen. Mit angenehmer Strömung geht es weiter bis zu einer Fußgangerbrücke, dahinter liegt in einer schilfgesäumten Bucht der Zeltplatz von Niederried. Wir müssen zwar wieder ein Stückchen kärcheln, landen dann aber auf einer wunderschönen Zeltwiese am Waldrand mit Feuerstellen und Holzbänken zum Sitzen. Die Ausstattung ist spartanisch, es gibt nur eine kalte Außendusche und ein WC in einiger Entfernung. Dafür ist der Übernachtungspreis unglaublich niedrig, wir bekommen sogar Feuerholz und haben statt Baumaschinen das schönste Vogelkonzert zum Abendessen plus eine Fledermausflugshow.

Vogelgezwitscher weckt uns schon um 6 Uhr, eine halbe Stunde später kommt der erste Bauer mit schwerem Gerät. Also sind wir für unsere Verhältnisse wieder relativ früh auf dem Bach. Nach der nächsten Kurve hört die Strömung schon wieder auf, dafür bläst ein kräftiger Wind von vorne. Nach 3 Km haben wir das Wehr von Aarburg erreicht. Mittlerweile routiniert im Be- und Entladen umfahren wir das Wehr in kürzester Zeit. Die Einwassserungsstelle liegt wieder im vollen Stromzug, wir treideln noch ein Stückchen stromab, wo es ruhiger ist. Wir befinden uns jetzt im schnurgeraden Hagneck-Kanal, der mit flotter Strömung zum Bieler See führt. Ohne einen Schlag zu tun treiben wir fast den ganzen Kanal entlang, bis zu einer Brücke, von der aus man das letzte Wehr vor dem See bereits sehen kann. Im Kanuführer wurde vor diesem Wehr gewarnt: man müsste fast bis ans Kraftwerk ranfahren, unter voller Strömung aussteigen, nichts für Anfänger usw. Eine empfohlene Aussatzstelle unter der Brücke finden wir nicht, auf beiden Seiten nur steile Ufer, an denen wir nicht rauskommen. Auf der Suche nach einer Aussatzstelle fahren wir ein paar hundert Meter stromauf und da fällt uns vor Staunen fast der Unterkiefer runter: hinter uns liegt das schönste Alpenpanorama, das man sich vorstellen kann. Hätten wir nie gesehen, wenn wir nicht stromauf gefahren wären! Wir finden schließlich eine Stelle zum Aussteigen, quälen uns durch hüfthohes Gras und kärcheln bei sengender Sonne und gefühlten 35 Grad fast 1 1/2 Km weit über einen Bergrücken zum Kraftwerk. Dafür können wir noch ausgiebigst den Alpenrundblick genießen.

Nach der Plackerei kehren wir ins Bistro mit Kraftwerksblick ein und gönnen uns einen Moscht, der sich aber als Apfelsaft entpuppt. Die im Führer angegebene Einsatzstelle hinter dem Wehr wurde renaturiert, da kommen wir nicht rein. Die Alternative hieße noch einen Kilometer weiter kärcheln bis zum nächsten Ort. Eine Velofahrerin rät uns über die Wehrkrone auf die andere Seite zu fahren, dort hätte sie schon Paddler einsteigen gesehen. Tatsache ist: unser Flussführer ist  überholt; das Wehr wurde renoviert und entschärft, es gibt sogar einen Bootslift, mit dem man ganz bequem ohne Aussteigen über das Wehr befördert wird. Wir hätten nur der Beschilderung folgen müssen. Irgendjemand meinte es aber trotzdem gut mit uns: ohne die Plackerei hätten wir niemals dieses wunderbare Alpenpanorama genießen dürfen.

Die Aare schießt mit Karacho in den Bieler See, dann wird’s mühsamer. 7 Kilometer bei strammem Gegenwind am Seeufer entlang. Die Orientierung ist auch schwierig, da die Ortschaften gewissermaßen ineinander übergehen. Wir suchen den Campingplatz Sutz, den einzigen Übernachtungsplatz in der Nähe von Biel. In einer großen Bucht mit heftigem Badebetrieb bekommen wir schließlich die Auskunft das sei der Strand von Sutz und der Camping sei gleich dahinter. Einen größeren Kontrast zu unserem letzten Übernachtungsplatz ist kaum vorstellbar: der Camping ist mächtig voll und laut, viele Blechzelte und Dauercamper, Gruppen, Familien mit Kindern; kein Wunder – es ist der Freitag nach Fronleichnam, sprich langes Wochenende. Wir finden gerade noch einen Platz, an dem wir unsere beiden Zeltchen reinquetschen können. Aber es gibt eine Beiz mit Seeblick und Erdinger Urweiße und wunderbaren zarten Koteletts vom Grill. Nach dem Tag ist uns beiden nach Fleisch! Und hier gibt’s auch den Suur Moscht, der einem Cidre nahekommt und gekühlt nach so einem heißen Tag ein Genuss ist. Wir sind beide etwas platt und gehen bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett, während um uns rum noch das Leben tobt.

Unsere Tour geht ihrem Ende entgegen. Claudia testet noch einmal den Schweizer Nahverkehr, um unser Auto in Bern abzuholen, während ich schon mal zusammenpacke und das Treiben auf dem Campingplatz beobachte. Gegen Mittag sind wir abreisefertig, decken uns noch mit Schweizer Käse und Ragusa ein, bevor wir uns auf den Heimweg machen. Das letzte Stück der Aare von Biel bis zur Mündung in den Rhein steht noch auf unserer Paddel-Wunschliste.

Hier noch die Auflösung der vielleicht unverständlichen Schweizer Begrifflichkeiten:

Der Pontoniersport ist eine traditionelle Wassersportart der Schweiz.. Bei diesem Sport wird hauptsächlich mit Übersetzbooten und Weidlingen auf Flüssen und Seen gerudert und gestachelt. Übrigens wird er vom Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungs-schutz und Sport (VBS) unterstützt, da der Ursprung vom militärischen Brückenbau mittels Pontons herrührt.

Inkludieren = beinhalten

Beiz  = schweizerdeutsch für Kneipe

Moscht = Apfelwein gefiltert oder naturtrüb

Chnüppi-Cup =  Schnürwettbewerb