Das Lächeln des Ferdinand

Neben mir liegt ein rotes, abgegriffenes Reisetagebuch. Gut zwei Monate nach dem Ende der zweiten Stippvisite im Land der kleinen Pferde habe ich zum ersten Mal wieder nachgelesen, was mir dort durch den Kopf gegangen ist. Und wie immer trickst mich die Erinnerung auch schon nach kurzer Zeit wieder aus – noch nicht viel, aber schon merkbar.

2008, August. In zwei Etappen kommen wir zu viert aus der Mongolei zurück, und die Begeisterung, Bewunderung, auch Verwirrung ist groß. Aus Notizen dieser Zeit geht der  Wunsch hervor, nochmal „da hin“ zu reisen. Was dann in den beiden folgenden Jahren für mich passiert, ist mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl, wichtige Dinge nicht zu verschieben.  So beginnt die konkretere Planung für 2011. Unser Dreamteam aus der ersten Runde ist für dieses Jahr nicht verfügbar. Dafür ist Franzi dabei und wird unter anderem mit schweizerischer Gelassenheit die Tour bereichern. Im Juli geht’s los. Diesmal soll es der Delger Murun sein, der zusammen mit dem Ider Gol, dem Biigsey Gol und dem vor drei Jahren besuchten Chuluut Gol die Selenge bildet.

2011-07-11; 50°9’8.63“ N / 98°52’25.12“
„Hast Du das Klopapier gesehen?“ – Franzi schaut schon leicht genervt in die Runde. Das ist einer der berühmten NoGo-Sätze, den man/frau bei solchen Touren eigentlich nicht hören möchte. Ich schüttle den Kopf, und habe sofort das Gefühl, dass wir die gesuchten Rollen auch nicht mehr sehen werden. Das Papier ist im anderen Bus – im allgemeinen Durcheinander vor dem kleinen Flughafen in Murun haben wir das Essen, die Tonne, die Reservepaddel gecheckt, so dass all dies auch in dem Bus landete, der uns hierher brachte – aber genau dieser Ausrüstungsgegenstand rollt nun zurück nach Ulan Bataar.

Fluchend schwöre ich, nie wieder Einkäufe und ähnliche Dinge von anderen erledigen zu lassen; das relativiert sich im Laufe der Fahrt, denn der Einkaufsservice war wirklich perfekt. Nur der Fahrservice war etwas überfordert (inkl. Sprachverwirrung in mongolisch/englisch/deutsch in zwei Ausprägungen) – und ich hätte es wissen müssen: schliesslich gab es vergleichbare Probleme auch vor drei Jahren. Corinne & Candid, die ebenfalls mit uns einsetzen (es aber flussab eiliger haben) stiften uns je eine Rolle des besagten Papiers aus ihrem großen Paket; über diese Rollen wird noch zu berichten sein. Und wie immer spielt ein bisschen Chaos zu Beginn bald keine Rolle mehr.

Der erste Tag auf dem Fluss: es ist heiß, und nach wenigen Kilometern kommt – ein Minigletscher. Ein sehr geschütztes Tal ist bis hinter die sichtbare Biegung mit einem Schneefeld bedeckt, das bei den Witterungsverhältnissen nicht abschmelzen kann und in ca. sechs Wochen wieder zulegen wird. Der Sommer ist kurz und intensiv. Natürlich verlangt dieser Anblick nach einer Fotosession, es ist kalt auf dem Schneeeis; das ablaufende Wasser an unserer Anlegestelle sorgt für Eisbein beim Einsteigen. Sonst ist der Delger recht warm – Kontraste.

Berge umgeben uns, höher und mächtiger als vor drei Jahren, auch mehr Wasser wird geboten, doch ist der Charakter vergleichbar: recht gleichmäßiges Gefälle, Steingärten (das mangelnde Freibord lässt die an sich harmlosen Wellen immer wieder mal an Bord) – und viel Landschaft. Insbesondere der Norden der Mongolei, in dem wir uns befinden ist geologisch vielfältig. So haben wir zu Beginn eher schroffe und graue Granitwände, die in abgeschliffene gelb-rote Felsformationen übergehen. Durch den Norden der Mongolei zieht eine alte  Kontinentalkollisionszone (Sibirische und Mongolisch-nordchinesische Platte), die für eine z.T. recht komplexe Geologie sorgt.

Und immer wieder wunderbare Terassen. 1, 2, 3 oder mehr Meter, manchmal in mehreren Stufen über dem Wasserniveau befinden sich völlig ebene Grasflächen – und Weite. Der erste Zeltplatz nach dem Input bietet einen fast endlos erscheinenden Blick stromauf, auf die andere Seite, und bis zur nächsten Biegung, die weitere Ebenen verspricht. Zwei mittelalterliche Hügelgräber mit umlaufenden Steinkreisen sind in der Nähe unseres Zeltplatzes. Wir zollen den unbekannten Mongolen Respekt, lassen sie in Frieden und nehmen nur die Bilder im Kopf und in der Kamera mit.

Zu Beginn treffen wir an einer Furt eine Gruppe badender, feiernder, essender & trinkender Mongolen. Noch ist die Woche des Nadaam – Ausnahmezustand rund um die Nationalfeiertage im Land, wer irgendwie kann arbeitet nicht, und feiert. Danach sehen wir 4 Tage lang keinen Menschen. Wie immer auf diesen Touren merke ich, dass ich anfange wieder zu atmen. Platz, Ruhe, keine lärmend vorgetragenen Nichtigkeiten samt ihren unsensiblen Protagonisten. Es ist mir zu heiß, es piesacken mich Bremsen und Moskitos, und ein unwilliges Knie, aber es ist wirklich ein kleiner Preis für diesen Platz. Urlaub für Ohren, die Augen, die Seele.

Ruhetag. Seit zwei Tagen grüßt das tägliche Gewitter gegen 5 Uhr nachmittags, so auch heute. Diesmal mit Sturmzulage, irgendwann merke ich, dass meine Füsse von Hagelkörnern umringt werden (ich stehe Wache am Küchentarp), die Ohren kalt werden, und es findet sich in den Weiten der Taschen meiner Regenjacke das seit einem halben Jahr vermisste Stirnband. Auch eher profane schwarze Löcher rücken immer wieder etwas heraus. Die Stimmung ist gut, nach dem Guss gibt’s heisse Getränke und wunderschöne Fotos.

Der mittlere Delger ist ein Wintertal für die Nomaden. Sehr saftige Weiden, kaum und erst im weiteren Verlauf Gers resp. Holzhäuser, statt dessen zahlreiche Unterstände für die Weidetiere im Winter. Wir finden dort Mauern aus Dung und zahllose „Knoddel“ vor. Für die hier extrem kalte Jahreszeit suchen die Nomaden geschützte Täler auf, unser Fluss mit seiner Süd/Südost-Richtung scheint dafür gut geeignet. Deshalb haben wir ihn auch eine Weile für uns alleine, erst in der großen Ebene, in der auch Murun liegt, sehen wir wieder Menschen.

Mongolische Weidetiere begegnen dafür uns zahlreich. Zu Beginn Herden von Yaks, Kühen, später auch wieder Ziegen & Schafe – und hier vor allem: Pferde. Es vergeht kein Tag ohne wenigstens eine frei laufende kleinere Herde, die bei Bedarf von ihren Eigentümern eingesammelt wird, sonst aber frei herumläuft und deren Mitglieder zwar vorsichtig, aber nicht sehr scheu sind. Auch die Rinder sind meist für sich, und erfreulich wenig neurotisch: auf einer Weide im Schatten dösend wache ich auf, wohl wegen rupfender und grunzender Geräusche. Der Blick nach hinten zeigt ein paar Jungstiere, die mich neugierig anstarren und sich durch lässiges Handwedeln verscheuchen lassen – sie grasen dann 5 Meter weiter weg entspannt weiter. Das klappt auf unseren heimischen Wiesen (wenn das arme Vieh überhaupt ‚raus darf) eher nicht. Und würde ich an Wiedergeburten glauben, und dann später wegen mäßigen Karmas als Kuh, Ziege oder Schaf mein Dasein fristen müssen, dann bitte hier.

Auch wilde Tiere sind anzutreffen. Mönchsgeier zu Beginn auf dem Weg nach Bayanzurh, der ein oder andere Steppen- oder Steinadler, viele, viele Schwarzmilane, Kraniche, Gänsesäger, auch die grünen Libellen, die so sehr die kleinen Stromschnellen mögen (und immer dann landen, wenn man gerade keine Zeit hat zum Fotografieren), die Beifallgrillen. Letztere fallen durch lautstarkes Geklapper und rosarote Unterseiten beim Flug auf.  Langschanzhörnchen – ständige Begleiter vor drei Jahren – gab’s diesmal kaum, nur manchmal unterwegs auf der Strasse. Wölfe und Elche gibt es hier, aber man braucht viel Zeit und Glück, sie zu Gesicht zu bekommen; daher Fehlanzeige. Wenngleich – das Geheul auf der anderen Flusseite gegenüber des letzten Zeltplatzes kannte ich nur von Huskies.

Nach dem Canyon öffnet sich die Landschaft auf dem Weg nach Murun. Den kleinen Ort  Burentogtoch direkt am Ausgang der Berge passieren wir ohne viel Diskussion – das oben erwähnte Papier geht noch lange nicht zur Neige, und irgendwie ist uns nicht nach Landgang. Wir treffen einen Mongolen, der durch die Furt reitet und sein unwilliges Packpferd auch von dieser Aktion überzeugen muss. Er lacht uns zu, und verschwindet bald hinter dem Uferrand.

Es entstehen Fotos, bei denen nicht offensichtlich ist, dass diese in der Mongolei entstanden sind. Wir fahren durch eine Auenlandschaft, mit leicht sumpfigen Abschnitten. Nur die immer wieder auftauchenden kleinen weißen Flecken in der Landschaft zeigen unseren Standort: Gers, wo immer das Land sich eignet. Die „Menschenleere“ der ersten Tage hat ein Ende. Die Erwachsenen sind wie immer eher erst einmal beobachtend, es sind es wie oft vor allem die jüngeren die uns direkt zuwinken oder -rufen.

Wir haben längst einen Rhythmus gefunden, den wir mit kleinen Varianten bis zum Ende durchhalten. Ausschlafen, baden, gemütlich frühstücken, packen und laden (kleine Varianten in der Reihenfolge möglich), eine Weile paddeln, Mittag im Schatten & kaltes Buffet auf Regenponcho, wieder eine Weile paddeln, Platz suchen (der alle unabdingbaren Kriterien erfüllt: windgeschützt, schöne Bäume zum einfachen spannen des Küchentarps, nicht zu mückig, Badestrand, eben mit Aussicht..), aufbauen, Tee & knabbern, wandern (Franzi), baden (Claudia), …., Kochen, H2O pumpen, Tagebuch, Matratze horchen. Life is tough.

„Aha, haben wir beim Kochen im Halbdunkel endlich Sand ins Essen gebracht?“ Kleine Sünden (in diesem Fall lästerliche Bemerkungen) werden sofort abgestraft: kaum gesprochen und ausgespuckt, stelle ich fest, dass mir an zentraler Stelle ein Stück Zahn fehlt. Mit zwei Lampen finden wir das Inlay, das meinem Backenzahn nun fehlt – im Staub. Dshingis – unser Wodka – muss helfen: säubern, Hände und Zähne desinfizieren, provisorische Zahnfüllungspaste rein, fertig. Franzi kontrolliert das Ergebnis fachkundig bei Lampenschein (ich komme mir ein bisschen vor wie ein zu verkaufendes Pferd). Und das Wunder geschieht: das Teil hält, und der vorsichtshalber zu Rate gezogene Arzt in Ulan Bataar diverse Tage später ist von der Amateurplombe durchaus beeindruckt. Auf unserem Zeltplatz grinst mich morgens danach ein halber Schafsunterkiefer mit vielen Zähnen an, sehr witzig.

500m vor dem Zusammenfluss mit dem Ider Gol bleiben wir nochmal auf einer Insel. Franzi kommt mal wieder bei den ersten Gewitterböen per Boot vom Berggang auf der anderen Flussseite zurück, bevor’s nass wird. Eine schwarze Wand steht im Delgertal, die tiefstehende Sonne setzt die Staubfahnen im Tal in Szene, der Wind rauscht in den Ohren. Wieder haben wir einen geschützten Platz, der nächste Guss von oben kann kommen. Abschied vom Delger Murun.

Am nächsten Morgen kaum im Boot schon der erste Fotostopp. Später stellt sich heraus, dass wir vor drei Jahren gut 2000m von hier aufgehört, und – wie dieses Jahr aus einer anderen Perspektive – die letzten Berge des Delger gesehen hatten. Ein verspätetes Deja vu. Jedenfalls beginnt an dieser Kiesbank, die wir für Fotos und das Umschauen angesteuert haben, recht abrupt die Selenge. Viel rotes Wasser gibt es nun und unerwartet viel Strömung. Niedrigwasser ist das auf alle Fälle nicht.

Auf dem Weg Richtung Ich Uul, wo wir abgeholt werden sollen, passieren wir eine Pontonseilfähre und etwas später eine Pontonbrücke. Erstere hatten wir vor drei Jahren vergeblich aufgesucht, um sie per Bus zu überqueren. Die Fähre ist diesmal in Betrieb, und es wird in mehreren Anläufen versucht, Leute und ein Motorrad auf die andere Seite zu bringen. Die Kollegen an Bord jubeln uns zu, aber das mit dem Anlanden scheint – zumindest solange wir vor Ort liegen – nicht zu klappen. Der Fährenwärter ist noch jung, und hat einen einsamen Posten mit seiner Frau und den Kindern. Jetzt, wo ich dies schreibe, wird’s nicht mehr lange dauern, bis es zu Fuss hinüber geht.

Die Pontonbrücke tags darauf: eine Begegnung der anderen Art. Kaum angelegt, kommen hilfreiche Menschen, um uns beim Umtragen unserer Gerätschaften zu unterstützen. Das funktioniert wie so oft ohne Übersetzer und unkompliziert. Wir schauen uns anschliessend die Buden und Gers auf der anderen Seite an, eine Art highway-Station nach Landesart. Dem Brückenwächter (Fahrzeuge müssen bezahlen) scheinen wir nicht ganz geheuer; er liegt auf seiner Liege und schimpft vor sich hin. Städter kommen in Autos und Bussen vorbei, und so sieht man den Unterschied zwischen Land und Stadt: Stöckelschuhe, schicke Klamotten und unsicherer Gang über etwas holpriges Terrain signalisieren, dass wir hier nicht die einzigen Touristen sind.

Ruhetag vor der letzen Halbetappe nach Ich Uul, wo wir abgeholt werden. Fototermin mit Ferdinand (ein imposanter Rinderschädel) und den Resten des berühmten Papiers. Ein weiterer Versuch, unser Abendessen mit frischem Eiweiß zu verbessern endet damit, dass ich nach wenigen Versuchen einen viel zu großen, grimmig drein schauenden Hecht am Haken habe – und wieder laufen resp. schwimmen lasse – viele Gräten und viel zu viele Portionen. Dafür kommt ein Mongole mit seinem ca. 10 Jahre alten Sohn auf dem Motorrad vorbei, probiert auch aus, wie die komischen Europäer mit der Angel umgehen, und da sein Kurzer etwas schüchtern ist und sich nicht traut, schenke ich ihm den kleinen Spinner. Leider werde ich nie erfahren, was diese Meister der Improvisation aus dem Teil gemacht haben.

Nach einem der seltenen Landregentage ist der Himmel blau und wolkenarm. Ich liege im Gras in der Steppe hinter unserem Platz; die nächsten Hügel sind über einen Kilometer weg. Der Blick nach oben – blau, eingefasst von Wolken am Rande, und den Bergen in der Ferne. Kein Wunder, dass die Mongolen diesem Himmel sehr verbunden waren. Die Wirkung der Weite – obwohl diese Gegend buckliger ist als die Steppen im Zentrum und im Osten – ist kaum zu beschreiben. Durch den Kopf ziehen Bilder vom Fluss, der diesen einfassenden Landschaft, seinen Bewohnern. Vom Licht bei Hitze und Gewitter, am Abend; die Geräusche des Wassers und des Windes. Abends spät ein Himmel voller Sterne; sie spiegeln sich zahllos in der Selenge, und Sternschnuppen sind für uns beide im Überfluss da. Real, Surreal, und eines der dauerhaften, überlebensgroßen Bilder im Kopf.

Die Rückfahrt ist wie immer etwas anstrengend mit dem Standardprogramm des Radwechsels und der Fahrt über tiefgefurchte Feldwege (auch mitten in der Nacht), und bringt uns wieder nach Ulan Bataar. Wir sind zurück in diesem anderen Teil Mongolei, voller Gegensätze, in vielerlei Hinsicht so weit weg vom Land wie der Mond. City Life: Eine junge mongolische Juristin setzt sich abends zu uns. Die unkomplizierte Neugier ihrer Landsleute hat sie sich bewahrt – sie will wissen, was wir so tun, was uns an ihrem Land gefällt – ihr Leben hat jedoch kaum Ähnlichkeit mit dem ihrer Vorfahren. Literaturabend im Cafe Amsterdam, Kinocenter, Diplomatenstraßen, In-Kneipen, Bettler, ständig überflutete Strassen, Kontraste wie so oft.

Schnittstellen: Im Internetcafé sitzt ein mittelalter Mongole vom Land im Sonntagstaat der Viehzüchter mit wertvollerem, bunten Deel und gewienerten Stiefeln neben mir – und surft in einem kyrillisch geschriebenen Forum. Tradition & 21. Jahrhundert: mir geht das Nadaam Eröffnungspektakel, das unsere Reise einleitete durch den Kopf. Mongolische Krieger martialisch aber auch nach moderner Choreografie tanzend, Hirtinnen mit Milchtöpfen und immer wieder Pferde, auch dort im Stadion. Der Staatspräsident eröffnet die Nationalfeiertage nicht im modernen Anzug, sondern im Deel. Viel Stolz wird aus der bekannten Geschichte gezogen, die Herausforderungen sind jedoch andere als zur Zeit von Dschingis, und eher komplizierter. Das Land sitzt auf erklecklichen Mengen Bodenschätzen, und sieht sich daher mit großen Begehrlichkeiten der Industrienationen und der zugehörigen Konzerne konfrontiert. Geht das Land den gleichen Weg wie viele andere sich als Rohstofflieferant vom Ausland oder korrupten Mitmongolen ausplündern zu lassen, oder gelingt es die Bevölkerung Teil haben zu lassen? Die Zeit der Nomaden ist fast abgelaufen, und es bleibt zu hoffen, dass sie nicht als Bettler enden.