Jede Menge Dokus über Patagonien und Feuerland; Bilder und Erzählungen von Freunden: information overkill – aber ich bin neugierig – die Landschaften und Menschen möchte ich jedoch gerne mit eigenen Augen sehen. Nach einem Besuch in Brasilien, der nun auch schon 20 Jahre her ist, Zeit für ein weiteres Mal Südamerika, diesmal aber richtig Süden.
Patagonien ist riesig – und voller Kontraste. Mehr als 4, längstens 5 Wochen Zeit habe ich nicht, also wo anfangen, wo aufhören? Eine gute Freundin von mir – noch eine Claudia – war schon mehrmals dort, hat mittlerweile selbst Kontakt zu Einheimischen im nordwestlichen Teil Patagoniens, und will endlich mal wieder nach Coyhaique in Chile. Also verabreden wir uns für einen gemeinsamen Abschnitt, und ich versuche den „Rest“ sinnvoll zu planen.
Patagonien ist nicht exakt abgegrenzt, umfasst aber geographisch den Südzipfel des Kontinents in Chile und Argentinien mit einer Längenausdehnung von etwa 2000km. Westpatagonien ist gebirgig mit beindruckenden Gletschergebieten und Vulkanen, im Wesentlichen in Chile; Ostpatagonien besteht aus eher trockenem Hoch- und Flachland in Argentinien. Das ist riesig – bestenfalls eine Stippvisite ist möglich, egal, was ich mir vornehme. Diesmal also „nur“ touristisches Programm, mal sehen, was dabei herauskommt.
Nun, wohin, und wie? Erster Punkt: die Magellanstrasse – das muss ich auf jeden Fall hin. Warum? Meine Nase steckt in Büchern seit ich lesen kann. So landeten auch – wie in den 60ern noch üblich – recht entschärfte Erzählungen über meist europäischen Entdecker auf meinem Lesestapel, so auch: Magellan segelt heldenhaft als Erster um die Welt. 500 Jahre ist das mittlerweile her. Später lerne ich mal wieder mit Ernüchterung, wie’s wirklich war: der unter spanischer Flagge segelnde Portugiese kam gar nicht selbst wieder zurück zum Ausgangshafen. Von 239 Männern auf fünf Schiffen kamen häppchenweise 18, später nochmal 5 Seeleute zurück; zuzüglich der Deserteure der San Antonio, die unterwegs unerlaubterweise nach Hause gesegelt waren. Der Grund der Reise war wie fast immer nicht heroischer Entdeckungsdrang, sondern ökonomisch-politischer Natur, und es ging auch gar nicht um eine Weltumsegelung. Der berühmt-berüchtigte Vertrag von Tordesillas, der die Welt jeweils in eine spanische und eine portugiesische Hälfte aufteilte, ließ die spanische Krone hoffen, dass die Molukken – einzige Quelle für Nelken und Muskat – im Einzugsbereich Spaniens liegen könnten. So wollte man sich quasi von hinten an die Herkunftsinseln der bisher von den Portugiesen gehandelten Gewürze anschleichen. Diese Hoffnung erfüllte sich zwar nicht – kleine Fehler bei der Berechnung des Erdumfangs sorgten für die Fehleinschätzung – aber probiert wurde es; man kann ja nie wissen.
Auch Darwin kommt in meinen Notizen vor, und damit der Beaglekanal. Ich muss einfach beide Seestraßen sehen und irgendwie befahren, und dabei Feuerland bestaunen – die kalte, rauhe Landschaft; ich stelle mir vor, wie die Flotte Magellans in dieser unwirtlichen Gegend unterwegs war, ohne überhaupt sicher zu sein, daß es einen gangbaren Seeweg nach Asien um die Südspitze der neuen Welt herum gibt. Palmen finde ich einfach langweiliger als Eisberge. Für diesen ersten Teil miete ich mich daher ausnahmsweise auf einem Touristenboot ein, dass Menschen gut verpackt und bewirtet durch beide Wasserstraßen schippert.
Tag 1-8: Speyer – Frankfurt – Ushuaia – Punta Arenas
Jetzt aber, los geht’s. Von Frankfurt über Buenos Aires nach Ushuaia – Anflug zwischen schneebedeckten Bergen. Einen Extratag (nur nicht das Schiff verpassen, also nicht auf den letzten Drücker anreisen) verbringe ich mit einer kleinen Wanderung in der Nähe, welche die spontan gefundene Begleitung und mich durch bergige Landschaft einem kleinen Bergsee führt. So bekomme ich einen ersten Eindruck der überwältigenden Landschaft. Ein Karakara läuft ziemlich entspannt vor uns über den Weg, und stört sich kaum an uns Zweibeinern. Leckeres Abendessen gibt es danach in einem Lokal mit Blick auf den Beaglekanal und an der Wand hochkletternden Sträflingen. Den späteren Abend verbringe ich mit Reinigungsarbeiten an meiner Kamera, die ich clevererweise erstmal nach einem wortwörtlichen Fehltritt im Matsch abgelegt habe.
Tags darauf geht’s auf das Schiff, welches uns die nächsten drei Tage im Zickzack von Ushuaia durch diverse Durchfahrten und Fjorde über Kap Horn, Wulaia, weitere Fjorde bis nach Punta Arenas in Chile bringen wird. Für mich ein völlig neues Erlebnis – schierer Luxus, rundum Versorgung, wenig Mitfahrer die man in die Outdoorszene einordnen könnte. Ich muss mich um rein gar nichts kümmern, und kann den Leuten leider nicht vermitteln, dass das Bett nicht mehrmals gemacht und die Vorhänge zum Fenster nicht geschlossen werden müssen. Der Altersschnitt ist hoch, das Preislevel auch – nur Gäste aus dem Westen, keine Asiaten, keine Russen. Ich überhöre Gespräche, die meine Vorurteile gegenüber sagen wir mal vorsichtig: ökonomisch sehr Unabhängigen bestätigen, treffe aber auch ein paar sehr nette Leute sogar aus meiner unmittelbaren Nachbarschaft zu Hause und einen Paddler aus Wisconsin (der erkennt die Seelenverwandte am T-Shirt des französischen Drome-Festivals). Die Mannschaft auf dem Schiff ist kompetent, unaufgesetzt freundlich und zugewandt.
Die erste Nacht verbraten wir mit viel Rumeiern auf der Stelle, bis der argentinisch-chilenische Zoll sein Werk getan hat. Fast alle Mitfahrer verkriechen sich im Warmen (und sind erstaunlich schnell verschwunden, trotz der geöffneten Bar); ich gehe raus und genieße die letztlich einzige Nacht unter einem klaren, südlichen Sternenhimmel. Ja, es ist kalt und windig und bleibt so, aber kann man bei sowas drin bleiben? Ein britisches Vogelkundlerpärchen hilft mir tags darauf Albatros-, Sturmvogel- und Kormoranarten zu unterscheiden, erstere gleiten am ersten Tag teilweise senkrecht im sicheren Abstand neben uns her. Live kleiner wie in den Dokus, bringen sie mich doch mehr zum Staunen.
Feuerland zeigt sich von seiner klassischen Seite: Wolken, Regen, kalt. Ich war gewarnt worden, wollte es ja wohl nicht anders. Die erste Landung an Land per Gummiboot findet im strömenden Regen statt, die oberen Enden der Berge sind abgeschnitten, und doch: Gletscher kann ich mir immer wieder ansehen. Und es gibt noch jede Menge davon. Wir sind im Parque National Alberto de Agostini, einer der großen Gletscherparks entlang der Westküste Südamerikas. Manchmal muß und darf man einfach nur schauen und kann dabei die Klappe halten.
In der Wulaiabucht ist der Ausblick trotz des Wetters beeindruckend; für mich sind es auch die zahreichen Nothofagusbäume, deren Rinde von den Yamana zum Kanubau genutzt wurden. Diese Indigenen mit ihrer einzigartigen Lebensweise des Seenomandentums in dieser extremen Landschaft sind auch wie so viele andere Menschen unserem Expansionsdrang zum Opfer gefallen; die Letzte dieser Gruppe starb 2005. Kapitän FitzRoy von der Beagle Expedition mit Darwin an Bord entführte auf einer früheren Fahrt einige Yamana nach Europa, einer der Überlebenden – Orundellico/Jemmy Button kehrte Jahre später nach Wulaia zurück. Noch später kommen nach den Missionaren (Wulaia war Missionsstation) wie üblich Abenteurer, Goldgräber etc. und damit die bekannten Krankheiten, die überall auf der Welt Indigene dahinrafften.
Eine weitere Gummibootlandung wird wegen schlechtem Wetter abgesagt, und das Ersatzprogramm führt uns durch einen Fjord, in dem ich aufhöre die Eisströme zu zählen. Manchmal ist Plan B einfach besser als Plan A. Täglich gibt es diverse erläuternde Vorträge für die, die sich vorher nicht mit der Gegend und der Geschichte beschäftigt haben (und davon gibt es wohl viele an Bord, Geld ersetzt halt nicht Bildung); ich selbst bin abgefüllt von Eindrücken und klinke mich beim Abendvortrag mal aus. Den Whisky an der Bar lasse ich mir später dann doch nicht entgehen.
Und schon ist es vorbei. Nach einem Rundgang am letzten Tag mit Humbold-Pinguinen und Magellangänsen werden wir in Punta Arenas mit einem leichten Eindrucks-Overload entlassen.
Tag 8 – 13 Punta Arenas – El Calafate – El Chalten
Beim Verlassen des Schiffs sind wir in Chile und beschäftigen uns erstmal im Zollgebäude mehr oder minder erfolgreich mit WLAN und dem Ausfüllen der Online-Zollerklärung. Danach können wir unser Gepäck einsammeln. Mein grüner Rucksack fällt auf unter den vielen dicken Koffern; Ungetüme mit Tragegurten haben hier Seltenheitswert, und später bemerke ich dann, daß alle Rucksackträger die ich treffe mindestens ein Vierteljahrhundert jünger sind. Irgendwie schaffe ich es immer wieder, mich nicht standes- / alters- / sonstwas- gemäß zu verhalten. Kampf der Langeweile, oder Teflonhaut gegenüber Gruppendruck?
Kaum geschultert und die Straße Richtung Innenstadt unterwegs, merke ich, wie sich eine Erkältung zusammenbraut. Die mich fast zwei Wochen verfolgen wird und dafür sorgt, dass ich unterwegs zwei Riesenpakete Taschentücher und noch ein Paket Klopapier kaufen und einige Pläne in die Tonne treten muss. Selten waren die Rotzschleussen so offen. Tags darauf (endlich Montag) werde ich zur Apotheke wandern. Etwas ratlos steht ich vor einem Nummernticketschalter – offenbar braucht man hier eine Krankenkassennummer, um bedient zu werden. Und schon kommt die Rettung in Form einer Mitarbeiterin, die mich zielsicher in perfektem Spanisch zum Schalter (ohne Nummer) lotst und mir die heißbegehrten Nasentropfen und Anderes verschafft.
Nun, zuerst kommt die Herbergssuche. Ich laufe durch den Ort und wundere mich, dass alle Cafés geschlossen haben. Komisch, dabei wollte ich eins nutzen um von dort aus eine nette Unterkunft zu suchen. Der Reiseleiter der „Zeit“-Gruppe, die mit auf dem Schiff war kommt mir mit seinen Schäfchen entgegen und klärt mich auf: heute sind Regionalwahlen in Chile, da ist dann mal erst alles zu – toll. Die nun folgende Übernachtungs-Empfehlung: ausgebucht. Ich drehe mich nach links – und direkt daneben ist ein kleines Hostal (=Gasthaus, nicht exakt ein Hostel), in dem ich mich mit Hilfe meiner paar Brocken Spanisch und DeepL einquartieren kann. Essen, Nasentropfen, ausschlafen, Fotosession, Überlandbus suchen.
Plan ist, nach der Besichtigung von Punta Arenas über El Calafate nach El Chalten zu reisen. Das geht mit den recht bequemen Überlandbussen. Die Fahrt wird lang, und wieder regnet es phasenweise. Wir überqueren erneut die Grenze, jetzt wieder von Chile nach Argentinien. Bis zum Ende der Reise verliere ich den Überblick, wie oft sowohl von den Grenzern als auch den Herbergsgebern mein Paß inspiziert und kopiert wird. Es klappt zwar immer, aber die diversen vorübergehenden Beipackzettel fotografiere ich vorsichtshalber immer – hatte schon mal richtig Ärger wegen eines solchen in Brasilien, der nicht mehr auffindbar war.
El Chalten: Touristen, Trecker, Wanderer, Kletterer – Bergsteigerzentrum. Claudia, die vor 10 Jahren hier war, zeige ich später die jetzt erstellten Bilder – der Ort ist seit ihrem Besuch deutlich vergrößert und ist vergleichsweise touristisch. 1985 gegründet ist der Ort stetig gewachsen, und beim ersten Rundgang sind neue Baustellen unübersehbar. Mehr als ein Lokal richtet sich an richtig zahlungskräftiges Publikum; es gibt exquisite Weine im „Maffia“, und keiner der Gäste sieht wie ein sparsamer Trecker aus. Irgendwo dazwischen sind die Profis, die ihr Leben um das Bergsteigen gestrickt haben. Die Auswirkungen des Tourismusbetriebs merke ich auch daran, dass die Hilfsbereitschaft nachlässt und die Preise teilweise sehr üppig sind. Ich wechsle in ein kleines Café, die Lust auf was Warmes meldet sich. Aja, 10 Variationen heiße Schokolade, Kuchen … und ein paar Dinge auf der Karte, die mir nichts sagen (Spanisch…). Mmh, Claudia hatte mir irgendwas von dulce leche erzählt. Leider habe ich mir nicht gemerkt, was, denke, das ist was Feines – die beige Paste wird geordert und getestet: und schon stellen sich die Nackenhaare – widerlich pappsüß und äußerst merkwürdiger Geschmack, da bleiben wir doch lieber bei den leckeren Kuchen.
Tolle Gegend, nur wird leider nix aus meinen geplanten Wandertagestouren. Fotografieren klappt, ansonsten versuche ich ein Übergreifen der Erkältung auf die Bronchien zu stoppen – beim Aufstieg zum Geierfelsen röchle ich doch erheblich. Der Ausblick und die über mir kreisenden großen Vögel entschädigen zum Glück. Vielleicht verhindert auch der nächste Versuch Matetee am nächsten Tag noch Schlimmeres: der ist so bitter, daß ich, wenn ich eine Bazille wäre, erstmal fliehen würde. Mate geht einfach nicht an mich dran, und ich lass es danach einfach bleiben.
Der Blick auf das Gebirgsmassiv mit Cerro Torre und Fitz Roy ist gigantisch. Schon die Anfahrt im Bus war beeindruckend, ich durfte in der ersten Reihe im Obergeschoß sitzen. Ständig wechseln die Wolken, doch mit etwas Glück bekommt man immer wieder Sicht darauf. Irgendwo im Schnee in diesem Massiv ist die Grenze zwischen Chile und Argentinien, doch das Eis verhindert menschengemachte Grenzposten und Bürokratie – wie schön.
Tag 13 – 15 El Chalten – Coyhaique
Ich muss weiter, Claudia ist mittlerweile in Coyhaique eingetrudelt. Der nächste Überlandbus ist dran – dieser fährt über Nacht und soll uns nach Los Antiguos bringen. Gesagt – getan; Busticket gekauft, abends zum Terminal, einchecken, es wird dunkel. Nach 10 min Fahrt stehen wir erstmal 2 Stunden, der Himmel weiß, was da los ist. Jedenfalls kann ich in den Liegesesseln sogar eine Weile schlafen; eingemummelt im dünnen Behelfsschlafsack erwache ich als es draußen hell wird. Nach Westen die Berge, nach Osten flaches, trockenes Land und Pampa. Und immer mal wieder Guanakos am Straßenrand. Überall sind Zäune, und die Tiere bleiben manchmal leider auch daran hängen. Bei der ersten Busfahrt hatte mich noch gewundert, was die hellbraunen Säcke an den Zäunen zu bedeuten haben. An der Kante zwischen West- und Ostpatagonien ist ansonsten einfach nur Landschaft.
Wir kommen 4 Stunden verspätet im Busterminal in Los Antiguos an. Fast alle wollen über die Grenze nach Chile Chico – dafür braucht man als erstes ein Taxi zur argentinischen Grenzstation, welches ich mit einer Holländerin und zwei Schweizerinnen ergattern kann. Auch das dauert erstmal, die Einheimischen kennen das Prozedere schon und sind schneller. Zwischen dem argentinischen Grenzposten und dem chilenischen liegen dann noch 7km Straße – und es gibt kein öffentliches Transportmittel. Wir halten nach der erfolgreichen Bewältigung von Grenzposten Nr. 1 die Daumen raus, und die anderen (jüngeren) Mädels lassen mir den Vortritt bei dem ersten Auto, das anhält – was nett. Später erfahre ich, dass kein weiteres williges Fahrzeug mehr kam, um sie auch noch mitzunehmen. Dann wieder Zollerklärung (Grenzposten Nr. 2), diesmal streikt das WLAN und die netten Grenzerinnen helfen mit ihrem eigenen Tablet. Die Nüsschen zum Knabbern muss ich trotzdem abgeben. Zwei Jungs aus Texas nehmen mich mit in den Ort, denn das ist auch noch ein Stück (nochmal 3 km). Grenzen sind immer wieder für Überraschungen gut. Wir in Europa sind verwöhnt; den Zirkus bei uns mit z.B. den französischen Grenzern oder gar den Kollegen aus der DDR im letzten Jahrtausend haben wir schon erfolgreich verdrängt.
An der Unterkunft begrüßen mich erstmal diverse Hühner. Die einzige etwas zweifelhafte Herberge, die Mama hat einen undefinierbaren Miniladen, der offenbar nur auf Zuruf auf ist. Doch selbst hier geht bargeldloses Zahlen, drei Monate später werde ich in Österreich in einem Tal sein, in dem bargeldlos nur in den allergrößten Etablissements funktioniert. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – mal wieder.
Nach dem Verstauen des Gepäcks geht’s an die Buchung der Fähre über den See (General Carrera oder Buenos Aires, je nach Land) nach Norden. Das wird auch spannend und erfordert etwas Geduld und ein geladenes Handy, klappt aber dank eines außer den Dienstzeiten per WhatsApp erreichbaren Mitarbeiters. Auch am Tag darauf beim Versuch, nach der Fährfahrt noch einen Platz im nächsten Bus zu bekommen (Buchung vorab war unmöglich) ist die Hilfsbereitschaft der Leute vor Ort beeindruckend. Keine Anmache (wie gerne bei uns): wenn Du das Ticket nicht hast, freundlich zuhören und wirklich helfen ist was geschieht – eine Erfahrung, die ich fast durchgängig auf der chilenischen Seite machen werde.
Zuerst zwei Stunden Fährfahrt am folgenden Morgen (wieder viel Wind und kalt). Die wohlerzogenen Deutschen (ich war nicht die Einzige) fragen brav nach der Platznummer, um dann von einem fröhlichen Chilenen erklärt zu bekommen, dass es völlig egal ist: wer zuerst kommt, sucht sich einen Platz; die Ticketnummer interessiert hier niemanden. Kaum eingerichtet werden ich von einem Schwarm älterer argentinischer Damen umzingelt, die offenbar eine Kurzreise nach Chile machen und das halbe Abteil unterhalten. Ich versteh herzlich wenig, aber ihre gute Laune ist ansteckend und begleitet mich über den See. Weiter geht‘s mit dem Bus nach Coyhaique. Durch die Berge hoch liegt noch/wieder ordentlich Schnee, wir erreichen das Plateau, in dem Coyhaique liegt. Es ist schlagartig wärmer und sieht aus wie in der Schweiz, beeindruckend. Claudia und ihre Freunde sammeln mich ein und dann ist’s erstmal gut.
Tag 16 – 26 Coyhaique – Puyuhapi – Futaleufu – Chaiten – Coyhaique
Claudia will sich mal weiter nördlich die Gegend anschauen, und hat bereits ein Auto gemietet. So lerne ich in den nächsten Tagen ein weiteres Stück der Carretera Austral kennen. Und eine tolle Landschaft, die sich zusehends von der unterscheidet, die ich bereits bereisen durfte. Unter Diktator Pinochet wurde der Bau dieser Straße begonnen, die – soweit möglich, bevor im Süden die Kordillieren im Meer verschwinden – eine Landverbindung in den Süden Chiles ermöglicht: 1240 km – Puerto Mont bis Villa O’Higgins – Tolle Landschaften, viele Schotterstrecken.
Pinochet – mache erinnern sich vielleicht: Sturz von Präsident Allende und Ermordung vieler Chilenen 1973 mit freundlicher Unterstützung der CIA, gefolgt von einer brutalen Diktatur bis 1990. Rechte Politiker verweigerten 50 Jahre danach, also 2023 ein Statement zur Verteidigung der Demokratie, das Land ist weiter gespalten. Bodenschätze sichern den relativen Wohlstand des gesamten Landes im Vergleich zum den anderen Ländern Südamerikas, jedoch ist dieser wie so oft extrem ungleich verteilt. Der demokratisch gewählte Präsident muss dicke Bretter bohren.
Der erste Reisetag nach Norden findet im strahlenden Sonnenschein statt (der letzte für ziemlich lange). Wir fahren durch grüne Täler, umrahmt von schneebedeckten Bergen, neben den Straßen viele Weiden (auch zwischen Bäumen, nicht so ordentlich aufgeräumt wie bei uns) mit Kühen, Kühen, nochmals Kühen; ja ok, gelegentlich gibt’s auch Schafe. Und wieder ein Karakara. Spaziert gemütlich über die Straße und lässt sich erst zum Fliegen herab, als ein zweites Fahrzeug auftaucht. Erste Station nach einer Schotterstraße voller Spitzkehren: Puyuhapi. Kleiner Ort an einer tiefen Bucht mit Zugang zum Pazifik, Delfine zu sehen ist möglich. Und wie so viele Orte mit einer fast bizarren jüngeren Geschichte.
Bei der Anfahrt kommen wir über die Hopperdietzelbrücke, im Ort wundern wir uns über deutsch klingende Straßennamen, und im Restaurant überraschen uns die verschiedene Hopperdietzel Biere schon nicht mehr. Über den ganzen Kontinent verstreut gibt/gab es Enklaven diverser Länder Europas. Nicht alle deutschen Siedlungen waren/wurden Verstecke geflüchteter Nazis. So entstand Puyuhapi durch den Zuzug einiger weniger Familien aus Hranice / Sudetengebiet in den 1930er Jahren zusammen mit Einheimischen hauptsächlich von der Insel Chiloe. Heute gibt es einen kleinen Flughafen, ein Wellness Ressort und in der Nähe den Nationalpark Queulat – und nette Gastgeber. Claudia entschwindet in den Park (noch eine Runde Gletscher), ich versuche die Reste der Erkältung loszuwerden.
Daß es die nächsten Tage fast nur regnen wird, haben wir nicht bestellt, kommt aber als Goodie dazu. Später schauen wir uns in der WetterApp fasziniert die von Westen heranrückenden halbkoninentalen Wolkenfronten an, die immer wieder aufs Neue genau dort abregnen, wo wir gerade sind. Ich wusste, daß es wettertechnisch riskant sein kann so zeitig im patagonischen Frühjahr unterwegs zu sein. Auf alle Fälle ist nun hinlänglich getestet, dass meine Klamotten wirklich wasserdicht sind.
Wir erreichen Fuatelufu. Der Ort lebt im Wesentlichen vom Wildwasser Rafting und Fliegenfischern, also Tourismus, kombiniert wie meist in diesen dünnst besiedelten Gegenden mit Subsistenz Landwirtschaft. Die Leute sind herrlich entspannt, unsere Unterkunft unterirdisch, das touristische Angebot um diese Jahreszeit kaum auffindbar. Die Lokale abends sind fast leer. Die argentinische Grenze ist nah, wir nutzen 3 Stunden ohne Landregen für eine Tour in das Tal voll blühender Ginstersträucher. Später fahren wir durch mystische Wälder, die Vegetation wird immer dschungelähnlicher, steile Schotterwege führen zu abgeschiedenen Farmen und zu einsamen Zugängen am Fluss. Die Wege enden in Sackgassen, meist an Zäunen. Schafe am Wegesrand ohne Ende, gelegentlich Hasen, Schwarzzügelibisse, Bronzekiebitze (die sich mit Vergnügen ablichten lassen), aber auch reitende Gauchos – das volle Programm. Die komischen Besucher aus Europa werden von allen Einheimischen (ob mit Flügeln oder ohne) gelassen hingenommen.
Wir flüchten vor dem Dauerregen, der einzigen schlechten Unterkunft und dem einzigen schlechten Restaurant nach Chaiten Richtung Norden. Der Ausbruch des gleichnamigen Vulkans hat 2008 den Großteil dieses Orts zerstört. Die Regierung beschloss eine Umsiedlung, jedoch sind viele Einwohner zurückgekehrt, und haben vieles wiederaufgebaut. Unsere Ferienwohnung fühlt sich sofort nach zu Hause an. Wir besorgen ein paar Lebensmittel, und entdecken zum ersten Mal seit Coyhayque ein kuscheliges Café – Buen Sabor, welches wir ausgehungert entern. Zu unserem Tisch kommt ein älteres Pärchen, die in den 80ern in München gelebt haben, sie war auf einem deutschen Gymnasium, In einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Spanisch tauschen wir Eindrücke unserer beiden Länder aus. Sie fahren weiter zu ihrem Sommerhäuschen weiter im Süden. Wir genießen später noch den Blick auf den Pazifik zwischen Ginsterbüschen und Treibgut. Die Stimmung hat was zwischen Melancholie und der immer vielversprechenden Weite beim Blick auf das Meer – zweideutig. Der inneren Schönheit der Gegend tut das keinen Abbruch.
Der nördlichste Punkt unserer Tour führt über ein Flusstal aus Mordor bis zur Fähre in Galeta Gonzalo. Es schüttet, und wir kommen uns gelegentlich vor wie in einem apokalyptischen Film. Analog dem Anstieg zum Vulkan ist die Vegetation jetzt Regenwald pur, den Beweis des Dauerregens hätte es allerdings nicht gebraucht.
Auf der Rückfahrt nach Coyhaique beschert uns eine Tankstellenpanne einen Zwangsstop in Junta (Nomen ist nicht immer omen). Es gibt vorzügliches Essen im „Mi Casa deTe“. Slow food mit explizitem Hinweis, dass Drängler nicht erwünscht sind, das passt doch zu uns. Ich mag die Chilenen immer mehr; beim nächsten absolut winzigen Cafe, welches wir Dank Google in einer Seitenstraße finden (Villa Amengual, Aroma Cafe) kommen wir sofort ins Gespräch, die Leute sind gut drauf, und voller Enthusiasmus nehmen wir noch ein paar Extra Gläser Calafate-Marmelade mit.
Tag 27 bis Ende
Zurück in Coyhaque stehen Waschen, Trocknen und Entspannen auf dem Programm. Wir ergattern noch mit der Hilfe von Claudia‘s Freunden eine Reittour in der Gegend von Puerto Ibanez, und endlich strahlt wieder der Himmel. Was eine Landschaft. Neben der schneebedeckten Gebirgskette kommen auf den Bildern nun endlich auch die Blüten des chilenischen Feuerbuschs zur Geltung, die ihrem Namen alle Ehre machen.
Der Rest ist eher ein Abtörner. Mit dem Bus nach Commodore Rivadavia, von dort später mit dem Flieger nach Hause. Mal wieder die Grenze nach Argentinien, anstehen (dauert ein bisschen bei 30 Leuten); die verbotene Einfuhr von Lebensmitteln beachte ich eher aus Versehen, indem meine Sandwiches vorab im Dreck landen. Ein langer Tag durch trockenste, flache Gegenden, der durch Erdölförderland führt steht uns bevor. In Commodore selbst (lokales Zentrum) merkt man der Innenstadt die Armut im Land deutlich an. Uns „schützt“ die Unterkunft in einem Hotel für mittelmäßig betuchte Dienstreisende und Touristen. Gegenüber ist das Hotel für die Wichtigen, wirklich Reichen und Schönen. 200m weiter stinken verrottende undefinierbare Überreste auf der Straße und Leute sind in Fetzen unterwegs. Die Bedienung sind wieder wie erwartet machomäßig drauf, die Reichen wohnen im Süden in Rada Tilly, die Armen im Norden. Das Öl nützt nur Wenigen. Und der Kettensägenfuzzi an der Regierung löst das auch nicht.
Was bleibt von Patagonien, dem Land der Riesen mit großen Füßen: Landschaft ohne Ende, Gegensätze, tolle Menschen, auch Entschleunigung (meist, die Stromschnellen sind wir ja nicht gefahren). Wieder hin? Ja aber bitte gerne. Viel Zeit sollte man mitbringen, Zeit für Spontanes und Stolperer in der Logistik (naja, sag‘ ich ja eigentlich immer) – es lohnt sich. Klasse Tour, trotz Grippe, Sch….wetter, Zeitrahmen usw..