Hummer, Elche und Wikinger

Blackflies am Hals, im Kragen, im Ohr, jede Sekunde sich vermehrend, und mit wachsender Begeisterung und tätlicher Zuneigung am Werk. Ich stehe in Labrador am Straßenrand, und die nördliche Idylle ist aufgrund eines kleinen technischen Defekts am Motorrad ziemlich beim Teufel. Sarkasmus ist eher angesagt. Die kleinen, schwarz-dunkelbraunen Plagegeister haben sich darauf spezialisiert, Warmblütern Löcher in die Haut zu beißen, um an das offenbar sehr schmackhafte Blut zu gelangen. Vampire im Miniformat. Was mache ich bloß hier? Weit und breit kein Schutz vor soviel Natur, und für weitere zwei Wochen wenig Aussicht auf Änderung. Kanada, das Land aller fernwehsüchtigen (deutschen) Neoromantiker – bei den Flüchen in diesem Moment ist das alles vergessen.

Neugier, Job, Wasserleidenschaft und klare Seen hatten mich zwei Jahre zuvor nach Kanada verschlagen. Mit dem Paddelboot durch den Busch, manchmal drin sitzend, öfter auf den Schultern tragend – das war das Freizeitprogramm der ersten anderthalb Jahre. In der näheren und weiteren Umgebung, im Norden, im Westen ist das ja ganz prima, aber wie den alten Osten dieses Landes während eines kurzen Urlaubs anschauen? Für eine Paddeltour bis nach Neufundland hätte ich wohl den ganzen Sommer gebraucht, weitaus mehr Zeit, als mein Brötchengeber mir zur Verfügung stellen würde. Somit bot sich ein Wechsel des Transportgefährts an. Ein betagtes Motorrad wurde aufgetan, und dann auch potentielle Mitfahrer. Es blieb bei einem – Norm – langjähriger Motorradfahrer und mit typisch zuvorkommenden ostkanadischen Charme.

Am ersten Tag verlassen wir früh Ottawa und haben 800 km auf kleinen Landstraßen und sogenannten highways (hier keine Hochleistungsautobahnen ohne Geschwindigkeitslimit) vor uns. Ein Lob den Ohrstöpseln, die den Lärm unter meinem Helm auf ein erträgliches Maß reduzieren. Bei leisem Gebrumm ziehen Quebec City mit seiner Altstadt, und ein immer breiter werdender Sankt Lorentz an uns vorbei. Norm hat wohl auch Ohrstöpsel, unterlegt aber die Idylle zusätzlich mit Musik aus dem Walkman. Zum Glück hat hier die Polizei Besseres zu tun, als illegale Beschallungselemente zu suchen.

Am St. Lorentz sind die Stellen mit preisverdächtigen Fotografiermotiven konsequent durch Schilder, die absolutes Halteverbot anzeigen, blockiert. So bleiben die Bilder im Kopf, zumal ich mittlerweile so mit der Sitzbank zusammengewachsen bin, daß Anhalten fast schon stört. Ein langer Tag. Des Abends in Rimouski angekommen schlafe ich dann so tief, daß im Traum laut rufende Loons (Eistaucher) auftauchen – aber die gehören in meine Paddeltouren, und in Wirklichkeit brummen fette Trucks zehn Meter am Motel vorbei.

Nächsten Tags verstauen ca. sechs Leute gleichzeitig unsere Motorräder in einem halboffenen Container. Eins ist klar: viele von unserer Sorte kamen an dieser Stelle bislang nicht vorbei – alle geben sich viel Mühe, aber keiner weiß so recht wie man sowas verzurrt. Mit vereinten Stirnrunzeln und englisch-französisch gestreiften Dialogen schaffen wir auch das. Abends geht’s dann endlich los. Unser Schiff  versorgt Ortschaften an Quebec’s Südküste, die teilweise noch nicht per Straße erreichbar sind, mit allerlei Lebensnotwendigen. Touristen an Bord dienen mehr der Ergänzung des Umsatzes – der Fahrplan richtet sich eindeutig nach den Containern. Das bedeutet Anlegezeiten in den kleinen Häfen zwischen 1.5 bis 3 Stunden, und das zu jeder beliebigen Uhrzeit, das heißt auch mitten in der Nacht. Bei einem der kürzeren Stops habe ich vor lauter Bewunderung von fleischfressenden Pflanzen und absolut idyllischen Uferformationen beim Landgang beinahe den Dampfer verpasst (welcher nur einmal die Woche kommt).

Den ersten Wal zum Bewundern gibt’s gleich mit ersten Sonnenuntergang, und auch noch direkt davor. Es gibt in den nächsten Tagen von diesen Meeressäugern noch etliche mehr zu sehen, wenn auch nicht ganz große, aber dafür öfters in Gruppen. Des weiteren: Seelöwen (im Wasser), herrlichen Seelachs und Shrimps (auf dem Teller). Wir brachten den guten Maestro der Küche durch unseres dauerndes zu spät kommen etwas durcheinander, aber hier waren wir konsequent: wenigstens im Urlaub ist Ausschlafen angesagt.

Wen trifft man oder frau, wenn sie reist? Natürlich Germanen. Erstes Exemplar hier ein Kölner Student, elend lang und attraktiv wegen sehr genießbarem Käse im Rucksack. Ganz hervorragend, wenn das offizielle Bordfrühstück mal wieder ohne einen selbst stattgefunden hat. Sage niemand, frau sei nicht berechnend. Andere Begegnungen: Rentnerehepaare, fast alles Frankokanadier. Weiße Einheimische, die das Schiff als Transporter zwischen den einzelnen schwer zugänglichen Ortschaften benutzen (meist sehr schwatzhaft). Einige wenige Indianer, schweigsam, zurückhaltend und fast unsichtbar. Und eben das klassische amerikanische Ehepaar, das nach der Pensionierung nach Florida gezogen ist, übrigens neben mir und dem Kölner die einzigen Nicht-Kanadier auf dem Trip.

Beeindruckend ist die Küste selbst. Die Ortschaften, die am Ufer kleben, werden Richtung Norden immer kleiner, und sie waren schon winzig zu Beginn der Reise. Die Häuser sind nur in geschützteren Lagen mehrstöckig, und ducken sich meist vorsichtig an den blanken Fels. Farbe und Inselformation erinnern etwas an die Bretagne. Eine sehr karge Gegend, aber wunderschön anzusehen. Trübes Wetter läßt ahnen, wie rauh es hier im Winter zugeht. Für die Einheimischen hier ist die Ankunft des Schiffs Anlaß genug für eine Art Dockparty. Alle kommen, auch wenn das Wetter nicht mitspielt. Ausstrecken des berühmten Daumens funktioniert sofort: wir bekommen binnen 10 Sekunden einen Lift in die 1000 m weiter entfernt Metropole. Das touristenfreundliche Café fehlt noch, dafür gibt’s neugierige und redefreudige Leute. Es bleibt zu hoffen, daß diese völlige unkomplizierte und freundliche Art der Einwohner mit der Fertigstellung der Verbindungsstraße, die bis nach Labrador gehen wird, nicht zu sehr gestört wird.

Eisberge gibt’s zu bewundern, und das jede Menge. Der erste kommt morgens zum Frühstück, und die ganze Touristenvolk hängt an auf einer Seite der Reling. Glücklicherweise wiegen die Container ca. 100 mal mehr als die lebendige Fracht, sonst wäre dieses Herdenverhalten gefährlicher als der Eisberg selbst. Nein, und auch sonst durften wir nicht in die Rettungsboote – der Radar funktionierte. Muß ja wohl, das Schiff fährt nur im Januar und Februar nicht.

Drei Tage Fähre klingt lang. Doch die Zwangspause ist Kur und kurzweilig zugleich. Es gibt nichts zu tun, aber so gesagt ist das einfach falsch. Selbst wenn man, wie Norm, seine Lektüre im Topcase im Container vergessen hat, und jetzt nicht dran kommt. In meinem Schmöker kam ich vielleicht zehn Seiten weiter. Zeit zum Denken, zum Schwatzen, zum Beobachten. Das gibt’s sonst selten ablenkungsfrei. Wahrscheinlich hat mir deshalb die Idee mit der Fähre so gut gefallen, wenngleich diese Variante kilometerfressende Motorradkollegen eher abschreckt….

Samstag morgen, 5 Uhr. Endstation Blanc Sablon, Quebec. Wir müssen das Schiff recht zügig räumen, und so sitze ich um 6:30 Morgens fertig gepackt auf dem Motorrad – eine für mich sehr ungewöhnliche Zeit. Nun, die Grenze zu Labrador liegt gerade mal 4 km weiter nördlich, also nichts wie hin und Fotos machen zum Angeben – die andere Fähre nach Neufundland geht erst 3 Stunden später. Das nächste Dorf (also in Labrador) hat zwei Läden – einer hat auf und versorgt die unausgeschlafenen Touristen mit Süßigkeiten und guten Ratschlägen. Nach einer ausgedehnten Fotosession direkt am Grenzschild, mit dem Blick auf die Fähre, ereilt mich dann das Schicksal, oder besser die VT: das Zündschloß verabschiedet sich gänzlich, und für immer. Den Berg hinunter zu rollen geht ja noch, aber bis zur Fähre reicht das nicht. Schraubversuche – siehe oben. Beim  Kunststoff-Verschleißtod hilft auch das kleine, gelbe Reparaturhandbuch nichts mehr, wegwerfen ist angesagt. Mit Überbrückungskabel geht’s auf die Fähre, gerade noch rechtzeitig,  und auf der anderen Seite wird das Problem dauerhaft, d.h. bis zum Ende der Tour mittels eines einfachen Ein-/Ausschalters gelöst (wer hat schon ein Zündschloß in den Reserveteilen..).

Endlich auf, nicht vor dem Motorrad. Ein Elch begrüßt uns seitlich der Straße, und flüchtet vor dem Gebrumm erst mal ein Stück weiter ins Gebüsch, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Menschen sind hier seltener als diese imposanten Zweibeiner – die größten aus der Familie der Hirsche. Ich habe sie einfach ins Herz geschlossen, und freue mich immer wie ein kleines Kind, wenn ich mal wieder ein Exemplar zu sehen bekomme. Auch wenn andere Leute an der Optik rummäkeln – zu lange Beine, merkwürdige Gesichtspartie – wen interessiert das schon.

Wir fahren zum alten Landeplatz der Wikinger ganz im Nordwestzipfel Neufundlands (L’Anse aux Meadows), die vor ca. 1000 Jahren sich für einige Zeit hier niederließen. Vinland nannten sie’s auch noch, doch beim Anblick der Eisberge und Krüppelkiefern – meist wächst gar nichts über Knöchelhöhe – kommen uns doch leichte Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der damit verbundenen Geschichte. Kalt ist’s heute auch noch, und regnerisch, wir werden heute auch noch ordentlich naß. Das gut geheizte kleine Museum am Ort der Ausgrabungen erinnert uns denn daran, daß es seinerzeit einfach auch wärmer war an diesem Teil der Welt. „Global warming“ gilt noch nicht für alle Gegenden dieser Welt.

Wolkenbruch und Dämmerung treiben uns in ein Motel (ich kann auf einmal ganz prima kleinste Hinweisschilder lesen, und das ohne anzuhalten), und später in die große Dorfkneipe auf der andere Seite der Straße. Ca. 60 Leute singen, machen Radau, trinken, und sammeln nebenbei Geld für einen Dorfbewohner, der selbiges für ein Nierentransplantat braucht. Zwei Opas sitzen sehr schnell bei uns am Tisch, und wir versuchen, den zahnlosen, sehr irisch klingenden Dialekt zu verstehen. Wir lernen die halbe Familien- und Dorfgeschichte, und wenn wir alles verstehen würden, dann wüßten wir jetzt wohl die ganze. Der Kontrast zu dem steifen, puritanisch angehauchten Ontario, wie ich es oft erlebt habe, könnte kaum größer sein – Kontaktstörungen habe die hier keine. Das, und einige in den Tagen danach folgende Begegnungen mit den Nufis, wie sie in Rest-Kanada genannt werden, erinnern  mich immer an die ebenfalls des öfteren recht direkten Vorderpfälzer, zu denen ich ja auch gehöre. Neufundland kam 1949 nach einer äußerst knappen Abstimmung zu Kanada, und es gibt auch heute noch genug Leute, die mit der Angliederung an die westlichen Provinzen nicht ganz glücklich sind.
Aber nicht nur aus Mentalitätsgründen.

Viel Landschaft, wenig Touristen, aber nichts für Sonnenhungrige. Neufundland ist selbst dann, wenn man nicht gerade einen Kaltwettereinbruch erlebt wie wir, eine recht kühle Gegend. Viele Fischerdörfer gibt’s entlang der Küste, meist nur leicht gewundene Straßen. Der Tourismus kommt recht langsam, somit ist die Insel bislang ein Paradies für Angler und Jäger, welche fast unter sich bleiben können. Halten wir mal an, zum tratschen, fotografieren oder einfach so, sind meist sofort Leute da, die fragen, ob wir Hilfe brauchen, Kids, die mit ihren Fahrädern mit uns Rennen fahren wollen usw.. Hier geht niemand verloren, trotz der Weite. Wir fahren die ganze Westküste ab, meist auf geteerten, leicht geschwungenen Straßen. Im Norden aber ist ein etwas größerer Benzintank als der meinige angebracht. Mit der amerikanischen Version meines Motorrads, dessen Tank grade mal knappe 10 l faßt, kann frau schon mal hängen bleiben. Wohl der, die noch Reserve oder ein zweites Motorrad dabei hat. Auf halbem Weg gen Süden kommt dann Gros Mourne National Park und sorgt mit seinen an Norwegen erinnernden Fjorden für spektakuläre Aussichten und kurvigere Straßen. Leider haben das einige Autofahrer auch mitbekommen, und versperren bummelnderweise die Straße. Aber irgendwann kommt man doch vorbei, und endlich gibt’s Schräglage.

Wunderschöne Zeltplätze gibt’s hier – man bekommt fast immer eine durch Büsche und Bäume vom Nachbarn getrennte recht komfortable Parzelle, irgendwo liegt Feuerholz, und es gibt auch viel Natur in der näheren Umgebung. In der dritten Nacht stolpert mal ein Bär durch’s Camp. Auch diesen Gesellen gehört „the Rock“ (Kurzfassung für Neufundland), und sie sind einfach länger hier wie wir. Draußen liegen keine Leckereien, also trollt er sich. An den Motorrädern hat er offenbar auch kein Interesse, zu wenig Honig.

Neben Benzin und Öl für das brave Stahlroß muß auch Nahrung für die darauf Sitzenden beschafft werden. Wir starten also die kulinarische Testreihe, Norm Clamchowder (Muschelsuppe), ich Lobster (Hummer). Klingt dekadent? Nun, dort wird dieses Meeresgetier direkt aus dem Wasser geholt, und ist dementsprechend frisch und billig. Und es wird wahrhaftig nicht so ein Getue um Hummer gemacht wie bei uns, was wohl am Angebot liegt. Interessanterweise gibt’s immer noch Cod tongues (Kabeljauzungen) obwohl diese Fische vor Neufundland de fakto ausgerottet sind. Einst ein blühender Fischereizweig, hat unkontrollierte Überfischung nicht nur den Tieren, sondern auch der ökonomischen Basis der Leute im Osten Neufundlands den Garaus gemacht. Wiederholung ohne Ende und ohne Lernprozess (Steinbeck – Cannery Row, liest ja auch keiner). Aber egal: die Zünglein schmecken interessant – d.h gewöhnungsbedürftig. Sie werden wohl importiert (aus Spanien…..???)..

Mittwoch morgen, vom Zelt aus sind’s gerade mal 10 km bis zur Fähre nach Neu Schottland. Dazwischen: waagerecht kommender Regen, Sturm, ein nasser Helm (ich @#%## habe ihn draußen gelassen), übler Schotter. Der fährt sich, wie sich zeigte, besser, wenn frau vor lauter Wasser nichts sieht. Endlich am Hafen angekommen, sind wir, in Regenklamotten und im strömenden Regen die Attraktion für die in ihren überdimensionierten Campingbussen ausharrenden anderen Fährwilligen. Das Schiff  ist zwei Stunden zu spät, und die Überfahrt rauh. Kleine, rosa Pillen helfen mir, dem allgemeinen Ungemach auszuweichen, mit blassem Gesicht auf Waschbecken stürzenden Mit-Passagieren mit Gelassenheit zu begegnen und die Leere am Mittagsbuffet zu genießen. Ein Lob der Chemie.

Ankunft in North Sydney/Provinz Neu Schottland ein paar Stunden später. 15 Grad wärmer als morgens, und Sonnenschein. Wir halten mehrmals, um überflüssige Klamotten loszuwerden. Und hängen zwei Stunden dran, um doch noch den nächsten Zeltplatz zu erreichen, der schon auf Cape Breton Island, der nördlichen Beule dieser kanadischen Provinz, liegt. Damit fällt zum Glück ein weiterer Motelbesuch aus. Im Haus schlafen kann ich das ganze Jahr. Aber seinen Tribut fordert der Tag dann doch. Ich fange vor dem obligatorischen Feuerchen am Abend liegend an zu schnarchen (die besagten rosa Pillen machen einfach müde).

Cape Breton beschert uns den ersten wirklich warmen Tag auf der ganzen Tour, und das nach deren zehn. Ganz ohne Aufpreis ist das nicht: Jede Nacht regnet’s irgendwann wenigstens so lange, daß wir das Zelt naß einpacken müssen. Es gibt keine Ausnahme. Also: Start mit feuchtem Gepäck zu der wohl kurvenreichsten Strecke auf der ganzen Tour. Zwei, drei Stellen erinnern an den Highway Nr. 1 in Kalifornien, dann wird’s wieder etwas gemächlicher. An einer Steigung verkauft ein alter, ebenfalls recht lebhafter Fischer alte Lobsterfallen. Diese Käfige haben den Umfang von überdimensionalen Schlafsackrollen, die quer übers Motorradheck geschnallt werden. Auf meinem Motorrad ist dieser Platz aber schon reserviert, leider – ich hatte mir schon überlegt, wie ich das gute Stück dekorativ in der Wohnung einbauen kann. Somit bleibt’s bei Steinen aus Neufundland als gewichtigsten Souvenirs der Reise.

Am absoluten Nordende von Cape Breton treffen wir mal wieder einen Motorradfahrer. Diesmal nicht, wie in 95% aller Fälle, eine Harley mit Fahrer und/ohne Sozia oder dasselbe auf einer Gold Wing, sondern einen einheimischen Krabbenfischer auf einer uralten Suzuki. Den Krabben geht’s gut, ihm somit auch, nur gibt’s natürlich keine Reserveteile und gut funktionierenden Werkstätten in der Nähe. Schrauben und Improvisieren gehören sozusagen zum Überleben. und so sieht das Motorrad denn auch aus – sehr individuell. Grund genug für einen Schlaganfall des klassischen, deutschen TÜV-Ingenieurs.

Schöne Straßen, wieder mehr Touristen. Auch wenn’s zum ersten Mal wieder die bekannten unschönen Szenen mit einerseits mauligen Fremden und andererseits Touristenfallen gibt, so strahlen viele Einheimische Offenheit und Herzlichkeit aus. Wir sind auch im Land der Akadier gelandet, wo man durch das konstante Durcheinander von französischen und englischen Namen, Bezeichnungen und Zungenschlägen an die sehr wechselhafte Geschichte dieses Landes erinnert wird. Frankreich und England kämpften eine Weile lang auf eine zum Teil doch sehr unschöne Art und Weise (inklusive Deportationen) um die Vorherrschaft in diesem Teil der Welt.

Neben den postkartenreifen Fotos auf dem Cabot Trail rund um die Nordecke Cape Bretons gibt’s den Gipfel der Dekadenz in Form von einem halben Pfund Hummerfleisch zwischen zwei Brötchenhälften. In Abwandlung eines international weitverbreiteten Gourmetgerichtes nannte sich dieses Ungetüm Lobsterburger, welches aber die bekanntere Verwandtschaft geschmacklich weit hinter sich lässt. Auf der Weiterfahrt später dann verheddert sich eine Biene in meinem Schal, und sticht gleich ordentlich zu. Selber schuld, wenn man obercool die Mopettjacke nicht komplett bis oben schliesst. Norm amüsiert sich königlich, denn es tut zwar anfangs auch weh, aber im wesentlich juckt der Stich im sogenannten Dekolleté tagelang, und ich ordere Eis im Cafe – unter dem irritierten Blick der Bedienung separat und nicht gleich im Getränk.

Unterhaltung gab’s auch noch in anderer Form. Gemeinhin sind die meisten Straßen auch hier geteert und gut befahrbar, nur wenn man sich verirrt, kann’s Überraschungen geben. Schwungvoll durch kleine, krumme Straßen, kommt eine nette Rechtskurve auf einer flachen Kuppe, gerade nicht mehr einsehbar. Mitten auf der Kuppe – Übergang zu Schotter ohne Vorwarnung. Aufrichten, noch 5 m Platz zum Anbremsen. Beide beide Fahrer landen auf der Gegenfahrbahn. Klassischer Fall für den Motorradschutzengel: Gegenverkehr kam zum Glück keiner. Visier auf, verdutztes Grinsen, und retour. Nach einem knappen Kilometer findet sich auch wieder die Hauptstrecke.

Tourenfahrer kennen das Phänomen: man/frau fährt so vor sich hin, betrachtet die Landschaft, und die Gedanken fangen  an zu wandern. Auch bei mir, und wenngleich dazu meist keine Protokolle existieren, sind mir Bruchstücke einiger Spaziergänge im Kopf während unter mir zwei Zylinder gemütlich brummten noch präsent. Auf fast allen Urlauben bin ich unterwegs. Festes Quartier, Langeweile am Ort/Strand (Liste beliebig fortsetzbar) waren mir schon immer ein Greuel. Somit ist es eigentlich kein Wunder, dass ich noch im vorpubertären Alter erst bei den Ruderern, etwas später bei den Paddlern gelandet bin. In Europa sind mir die Wasserwege aus eigener Erfahrung wesentlich geläufiger als die Straßen. Mopettfahren kam später, für die wasserfreien Wege. Wege leben, ob aus Wasser, oder Schotter und Teer. Die sukzessive Veränderung der Landschaft, das Älterwerden des Flußes, Wetter- und andere Kapriolen, Menschen und Tiere entlang all dieser Straßen sind das Salz dieser Fluchten, und machen den Alltag erträglicher.

Neu Schottland – Nova Scotia, unsere nächste Station, hat seinem Namen nicht ganz ohne Grund. So gibt’s denn auch getreu dem europäischen, pardon: schottischen Vorbild Highland Games. An einem sonnigen Samstag kann man Damen und Herren jeglichen Alters in karierten Röcken unterschiedlicher Farbkombinationen beobachten, die geschäftig auf einem großen Rasenplatz wichtige Dinge tun. Als da wären: Tanz- und Dudelsack/(backpipe)- Wettbewerbe, diverse Ständchen der Familienclans, wo man endlich lernen kann, warum McDonald andere Farben hat als McCartney, und natürlich die „heavy weight events“, die neben dem Bierzelt (eine absolute Ausnahme auf diesem Kontinent) für angemessene Heiterkeit sorgen. In unserem Falle – wir hatten die Ehre ein solches Spektakel in New Glasgow bewundern zu können – traten ein Dutzend mehr oder minder schwergewichtiger Herren an, um sich im Weit- und Hochwurf diverser Steine, Eisenkugeln und Stangen mit Eisenkugeln sowie dem Telegraphenmastenzielwurf – nein: Caber toss – zu messen. Stunden später ist einer der Gewinner, keiner hat größere Metallteile auf den Kopf bekommen oder sich sonst verletzt, und das Spektakel geht seinem Ende entgegen. Wir haben uns bestens amüsiert, und suchen nun das Weite.

Neu Braunschweig – Südkante. Ebbe und Flut hat frau irgendwann schon einmal gesehen, aber nicht das Spektakel, das hier am Südostzipfel Kanadas zu sehen ist. Der maximale Tidenhub an der Bay of Fundy – der riesigen Bucht zwischen Neu Schottland und Neu Braunschweig – beträgt 19 Meter: nirgendwo sonst auf unserem Planeten gibt es dieses Extrem. Selbst das durchschnittliche Auf und Ab außerhalb der Extremstellen ist mit 9 – 11 Meter recht imposant. Wir gucken dem Schauspiel einen halben Tag lang zu, laufen im Watt herum, betrachten riesige, vom stetigen Strömungswechsel ausgehöhlte Felsen, und führen die Gourmetreihe fort. Ein fauler Tag.

Wir kommen in dieser Ecke auch durch einen Ort, den die Rezession bitter getroffen hat. Vernagelte Geschäfte, schmuddelige Straßen, und auch die Redefreude der Leute hat gelitten. Hier habe ich zum ersten Mal seit langem den Eindruck, zu stören. Meine Sorgen sind von einer anderen Welt, und helfen kann ich wenig. Interessanterweise ist gleich auch in der Nähe das einzige Motel, in dem wir einfach wie die Weihnachtsgänse ausgenommen werden. Wie passend.

Auf dem Weg zurück nach Ottawa verlassen wir Kanada erst einmal, und kommen nach Maine, dem Nordost-Zipfel der USA. Landschaftlich ändert sich wenig, nur die Straßenschilder, die uns die gerade aktuellen Tempolimits verkünden, zeigen merkwürdig kleine Zahlen. Wir haben das Land der Meilen, Galonen und Unzen erreicht. Später durchfahren wir bis kurz vor der kanadischen Grenze am letzten Tag hügeliges Farmland, was uns gemütlich kurvige Straßen beschert. Das bleibt auch so bis ins St. Lorentztal am letzten Tag. In Belfast/Bundesstaat Maine erscheint uns zu Ehren der Gouverneur in einem historischen Zug, gezogen von einer schwer keuchenden schwedischen Dampflok. Gefundenes Fressen für die fotografierwütige Autorin, die auf die Audienz mit dem Landesfürsten dann aber doch verzichtet.

Der Verkehr nimmt wieder zu, die Temperaturen auch, und die Gebühren für die Campingplätze. Aber einer schöner wie der andere, auch hier viel Platz, Feuerstellen und saubere Seen. Der Dialekt der einheimischen Bevölkerung ändert sich wieder, und auch das Essen wird bei zunehmender Entfernung von der Küste wieder sehr amerikanisch. Es ist mir in zwei Jahren Kanada nicht gelungen, meinen Magen an diese Eier/Würstchen/Kartoffelfrühstücke zu gewöhnen, und an die anderen Schrecklichkeiten, die es leider Stereotype bestätigend überall gibt (vor allem die Würstchen…). Aber Ausschau halten lohnt sich. Nun denn, es gibt immer wieder Restaurants, die vorzüglich kochen, und mit der Zeit bekommt man einen Blick für die Kandidaten. Wir passieren in schneller Reihenfolge die Nordecken von New Hampshire, Vermont und New York State, und entscheiden oft am Ort, welche der kleinen Straßen wir denn heute noch nehmen. Manche sind recht hubbelig, mit tausend Flicken zusammengehalten, aber über Schotter kommt man in diesem Teil der USA kaum. Gelegentlich passieren wir ein „erlegtes“ Stinktier, welche wir tunlich zu überfahren vermeiden, denn der Gestank dieser eigentlich ganz ansehnlichen Tierchen ist wirklich unerträglich und bleibt dem Mopett lang erhalten.

Manche dieser Campingareale doch recht weit von dem nächsten Ort weg, und so wird das Motorrad zwecks dinieren nochmal bewegt. Es wird später, wir geraten in die Dunkelheit, und ich stelle mit Entzücken fest, daß seit der Schrauberei aufgrund des Zündschlosses, bei dem das ganze Vorderlicht mit abgebaut werden mußte, letzteres recht nahe vor dem Vorderrad den Asphalt beleuchtet. Ändern ist bei dem Modell nichts ohne Werkzeug und etwas Aufwand, also wird erstmal schnell improvisiert. Resultat: Madame beleuchtet die Sterne. Viel Gelächter, später mit ordentlichem Gerät und etwas Ruhe wird’s dann endlich.

Die letzten zwei, drei Tage vergehen sehr schnell. Das Gelände wird weder sehr flach, und bald ist Ottawa zu sehen. Der Urlaub ist zu Ende. Die Waschmaschine freut sich, und auch mein Motorradhändler – auf dem Hinterreifen ist auf der Mitte (jaja, die vielen geraden highways) kein Profil mehr drauf. Und die Ohrstöpsel darf ich jetzt auch wieder ‚rausnehmen.